Überleben als Ziel
«Es ist keine Zeit für Pläne. Gegenwärtig heisst es, mit aller Kraft den Alltag zu schaffen. Auch in der Kirchgemeinde.» Der stellvertretende Bischof der Reformierten Kirche in Transkarpatien, János Heder, der als Pfarrer der reformierten Kirchgemeinde in Ungvár/Ushgorod tätig ist, wirkt müde und zugleich entschlossen, als er die aktuelle Situation in der Westukraine analysiert. «Für einen Baum gibt es immer noch Hoffnung, selbst wenn man ihn gefällt hat», zitiert er aus dem Buch Hiob das Wort, das ihn durch das Jahr 2023 begleitete – das Jahr, in dem seine Kirche ihren 100. Geburtstag feierte. Symbolisch pflanzten die Kirchgemeinden Bäume. «Nun aber ist der Baum ausgerissen...», sagt János Héder nachdenklich.
Jahreswechsel: «Was soll ich sagen?»
«Es war nicht leicht, die Freude der Weihnacht an den Festtagen zur Sprache zu bringen. Hier hat fast jede Familie Sorge um einen nahestehenden Menschen, von dem sie nicht wissen, wo er gerade ist und ob er noch lebt.» Auf die Frage, wie er als Seelsorger die Menschen begleitet, antwortet er: «Was soll ich anderes sagen, als die Hoffnung nicht aufzugeben, solange es keine schlechte Nachricht gibt? Und dass Gott uns nicht vergisst – auch wenn wir uns noch so allein und verzweifelt fühlen?» Die Feiertage haben die Folgen des Krieges in der Stadt und den zur Kirchgemeinde zählenden Dörfern augenfällig gemacht. «Früher wurde hier am Heiligabend der Brauch des Singens an den Türen der Häuser gepflegt. In diesem Jahr warteten leergefegte Strassen auf uns», so der Pfarrer, dessen Kirchgemeinde einst 500 Mitglieder zählte. Bereits nach einem Jahr dünnten sich die Reihen aus. Wer konnte, floh vor dem Krieg.
Alte und Kranke sind geblieben
Jetzt sind sie noch 200, vorwiegend alte und kranke Menschen. Eine grosse Herausforderung für die Kirchgemeinde. Ein Rentner bezieht im Monat 2500 Hrivnya (HRN), das entspricht aktuell 55 Franken. Für ein Kilo Fleisch sind derzeit 300 HRN zu zahlen, ein Kilo Tomaten oder 10 Eier kosten 100 HRN. Wer kann, versucht mit dem Sammeln von Pilzen oder Heilkräutern oder dem Verkauf eigener Eier auf dem Markt sein Einkommen zu verbessern. Nun wird eine zweimalige Verteuerung des Stroms erwartet, der ohnehin nicht stabil genutzt werden kann. «Die Menschen hier sind müde geworden. Die anfängliche Erwartung, dass das alles schnell vorbei sein würde, ist weggespült. Ihre Geduld reicht lange nicht mehr so weit. Leider hat auch die Kriminalität zugenommen.»
Kinder und Krieg
Héders Frau Katalin ist als Psychologin tätig. Sie begleitet vor allem Kinder im Schulalter. «Ich kenne kaum noch Familien, die komplett sind», beschreibt sie die Situation. «Die Unsicherheitserfahrungen der Kinder spiegeln sich in ihrem Verhalten und in ihren Leistungen – und das nicht nur bei denen, die vor den Kriegshandlungen an die Westgrenze fliehen mussten», so die Psychologin. «Vergessen wir zudem die Pandemie nicht, die dem Krieg voranging», erinnert sie. «Viele Monate Online-Beschulung... Wir sehen die Auswirkungen des Ganzen auch an der Lesefähigkeit, die im Durchschnitt abgenommen hat.» Die Familien versuchten, ihre Kinder zu schützen. Hoffen auf die Zeit danach... Nun sei der Sinn, für den es all das auszuhalten gälte, für viele nicht mehr sichtbar. Das mache es zunehmend schwieriger.
Humanitäre Hilfe erschwert
Welche Möglichkeiten die Reformierte Kirche in Transkarpatien noch hat, um Menschen in dieser Zeit zu stützen? «Seelsorge, Zuspruch, Angebote für Kinder und zurückgebliebene Frauen. Diakonische Nothilfe. Im Rahmen des Möglichen.» Wer János Héder zuhört, der kann spüren: Das ganze Leben ist derzeit schwierig. Die Bürokratie stehe oft im Weg. Selbst die humanitäre Hilfe sei erschwert, dabei wären «die langen Wartezeiten, die allein die für die Weihnachtshilfsaktionen an den Grenzen des Landes in Kauf genommen werden mussten» nur ein Beispiel. «Das macht auch die Unterstützungswilligen müde», so János Héder, der die Bedeutung des Eingebundenseins in die weitere ökumenische Gemeinschaft immer wieder betont.
Wertewandel
Den Pfarrer und seine Frau beschäftigen das Schwinden des Vertrauens unter den Menschen. Herzlichkeit und grosse Gastfreundschaft: Dafür war die Region bekannt. Jetzt wachsen Angst, Skepsis und Verschlossenheit. Der Vertrauensschwund betrifft auch die Medienberichte. «Über Frieden durfte lange nicht gesprochen werden. Glauben schenken die Menschen am ehesten denen, die selbst im Schlamm gelegen und die Schrecken des Krieges an der Front erlebt haben», erzählen sie nachdenklich.
Lebendiges Wort
«Jahr des lebendigen Wortes», so lautet das Motto aller ungarischsprachigen Kirchen im Karpatenbecken für 2024. Ziel sei der Aufbau der Kirche. Das spricht hinein in eine in Transkarpatien von Nöten geprägte Wirklichkeit: Wenn die Menschen hier an die nahe Zukunft denken, dann bewegen sie Zwangsrekrutierungen, die Verschärfung der Gesetze über die Einberufung und die Sorge um ihre Angehörigen auch im Ausland, die mit unterschiedlichsten Massnahmen gezwungen werden sollen zurückzukehren. Und dann sind da nicht wenige, deren Angehörige als an der Front verschollen gelten und die darum keine Hinterbliebenenunterstützung bekommen, weil man ja eben nichts Genaues weiss. «Aufbau ist hoch gegriffen. Unser Ziel ist wohl eher zu retten, was ist...», konkretisiert János Héder.
Aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen
Gefragt, wie sie die Situation persönlich aushalten, antwortet der stellvertretende Bischof: «Da ist die innere Vorbereitung. Möglich, dass wir sterben müssen. Möglich, dass wir in die Kriegshandlungen hineingezogen werden. Solange es möglich ist, geben wir alles, um zu überleben und anderen beim Überleben zu helfen.» Seine Frau erinnert an Dietrich Bonhoeffer: «Gott kann auch aus dem Bösesten noch Gutes entstehen lassen!» Das gebe ihr Ruhe. Gott weiss von dem, was vorgeht. Und schon das nähre die eigene Kraft zum Ausharren. Und János Héder ergänzt: «Christen stehen auf der Seite des Lebens und sind keine Freunde des Krieges.» In der Kriegsrhetorik werde deutlich, wie der Gegner sein menschliches Antlitz verliere, ihm das Menschsein abgesprochen werde. Das Leben stehe nicht mehr an erster Stelle. Wer aber aus Tötenden Helden mache, der müsse dafür die Verantwortung tragen. Auch vor Gott. Gott wolle das nicht.
Gott mit uns – wer kann gegen uns sein?
Die Frage nach dem Warum des Krieges und seiner Opfer, die zu den häufigsten theologischen Fragen zähle, könne denn auch keine andere Antwort als diese erfahren: «Für den Krieg ist nicht Gott verantwortlich, sondern Menschen sind es. Und dabei verlieren immer alle Beteiligten.» Ihn ermutige sein Konfirmationsspruch – «Wenn Gott mit uns ist, wer kann gegen uns sein?» Transkarpatien sei nie das sprichwörtliche Paradies auf Erden gewesen, aber auf Gott sei immer Verlass.» Und Katalin Héder ergänzt: «Ja: `Ob wir leben oder sterben, wir gehören Gott.` Das war schon in unserer ganzen Historie bedeutsam.» Nachdenklich schliesst die reformierte Christin mit den Worten: «Aber all das, was es zu tun gilt in diesem Ringen ums Überleben, ist in seiner Schwere nicht zu unterschätzen.»
Überleben als Ziel