News aus dem Thurgau

Wie wichtig ist die «ungeteilte Stimme»?

von Ernst Ritzi
min
22.09.2023
Bei den Ständeratswahlen wird zuweilen die ungeteilte Standesstimme als Argument ins Feld geführt. Wie ist das Argument zu gewichten und welchen Einfluss hat die Idee der ungeteilten Standesstimme auf die politischen Entscheidungen?

Im Thurgau war die Vertretung im Stöckli von 1987 bis 1999 «geteilt», als neben der SVP die SP mit Thomas Onken einen Ständerat stellte. Seither teilen sich SVP und CVP - «bürgerlich ungeteilt» – die beiden Thurgauer Sitze im Stöckli. Welche Bedeutung hat eine ungeteilte Standesstimme im Ständerat? Von den 20 Kantonen mit zwei Sitzen im Ständerat sind 10 mit einer ungeteilt bürgerlichen Stimme vertreten und 9 mit einer geteilten Stimme bürgerlich/links-grün. Der Kanton Genf ist der einzige Kanton mit einer ungeteilt links-grünen Stimme.

In den meisten Fällen auf Parteilinie

Das SRG-Informationsportal swissinfo.ch ist im Juni 2023 aufgrund des Abstimmungsverhaltens der Ständerätinnen und Ständeräte der Frage nachgegangen, wie weit im Stöckli innerhalb der Zweiervertretung der Kantone das Bestreben besteht, ein geteiltes Stimmverhalten zu verhindern. Aufgrund der Untersuchung kann festgestellt werden, dass auch die Mitglieder der kleinen Kammer weitgehend der Linie ihrer Partei und Fraktion folgen. Wie im Nationalrat stimmen sie in neun von zehn Fällen auf Parteilinie ab.

Häberli und Stark: Oft Übereinstimmung

Die Übereinstimmungsquote bei der Thurgauer Vertretung im Stöckli ist hoch: Brigitte Häberli-Koller, Die Mitte, und Jakob Stark, SVP, haben bei 62 Prozent der Abstimmungen gleich gestimmt. Ob das weiter so sein wird, entscheidet das Thurgauer Stimmvolk am 22. Oktober, denn nebst den Bisherigen kandidieren auch die Neuen Gabi Coray (WkGC), Stefan Leuthold (GLP), Robin Spiri (Aufrecht Thurgau) und Kris Vietze (FDP).

Die Redaktion des Kirchenboten hat zwei Thurgauer Journalisten und Beobachter des politischen Geschehens gebeten, das Argument der ungeteilten Standesstimme einzuschätzen und einzuordnen.

 

Das meinen Armin Menzi und Christian Kamm:

 

Wie teilt man eine Standesstimme?

Armin Menzi, Publizist, Frauenfeld

Die «geteilte Standesstimme» ist ein Mythos. Er wird vor allem von bürgerlichen Wahlstrategen kurz vor ihrem eigenen Nervenzusammenbruch in die Waagschale geworfen – verbunden mit der Ahnung, der Kanton würde schlimmstenfalls von der Landkarte verschwinden.

Von aussen betrachtet schweben Ständerätinnen und Ständeräte vom Morgen bis zum Abend zwischen Himmel und Fegefeuer, also zwischen den Interessen ihrer Herkunftskantone, dem Machtkalkül ihrer Parteien und ihrer eigenen Haltung. Darum verorten sie ihre Kleine Kammer gleich selber als «Chambre de réfléxion».

Im politischen Tagesgeschäft verlaufen die Kraftfelder für Kompromisse allerdings anders: zwischen Fraktion, Kommissionen, dem Bundeshauscafé «Vallotton» und dem Herkunftskanton. Und da wohnen ja auch ihre Wähler. Doch die Rechenkünstler unter den Politologen führen uns auf die Stelle hinter dem Komma genau vor, wie oft die Standesvertretungen nicht der gleichen Meinung sind und zwischen Partei, Kanton und persönlichen Grundhaltungen abwägen.

Kein Problem: Ratsmitglieder sind an keine Weisungen gebunden. So steht’s auch in der Verfassung. Und mit ihr haben wir ja immerhin 175 Jahre lang Erfahrung. Zum Schluss ein Trost: Wenn die Bundesversammlung in der Dezembersession einen neuen Bundesrat wählt, wird dies ein «ganzer Bundesrat» sein. Den «halben Bundesrat» gibt es ebenso wenig wie die «geteilte Standesstimme». Der Thurgau darf also hoffen.

Ausnahme von der Regel gut ĂĽberlebt


Christian Kamm, stv. Chefredaktor Thurgauer Zeitung

Ist die Frage der ungeteilten Standesstimme überhaupt ein Thema, über das man sich im politischen Thurgau den Kopf zerbrechen muss? Rein quantitativ betrachtet, nein. Denn die ungeteilte Standesstimme – beide Ständeratsvertreter gehören dem bürgerlichen Lager an – ist im Thurgau die Regel.

Einzig in den 1990er Jahren gab es sie, die Ausnahme von der Regel. Mit Thomas Onken vertrat zum ersten und bisher einzigen Mal ein Sozialdemokrat den Thurgau im Ständerat. Im Rückblick lässt sich gelassen feststellen: Der Kanton hat das erfolgreich überlebt. Natürlich war die geteilte Standesstimme damals ein Faktor. In sozial-, finanz- oder armeepolitischen Fragen werden Onken und SVP-Ständerat Hans Uhlmann kaum je gleich gestimmt haben.

Aber – wenn es um die vitalen Interessen des Thurgaus ging, zogen auch sie am selben Strick. Thurgau first – jenseits aller Parteigrenzen. Klar, dass die bürgerlichen Parteien trotzdem kein Interesse an der Wiederholung des Experiments haben. Das hätte ich auch nicht, wenn ich bei den letzten Wahlen 2019 einen Wähleranteil von kumuliert rund drei Vierteln eingefahren hätte (inklusive GLP).

Da sind zwei bürgerliche Standesvertreter, schon rein mathematisch betrachtet, gerechter als ein Mix über die ideologische Demarkationslinie hinweg. Falls es doch wieder einmal so weit kommen sollte: Gelassenheit. Ständerat Thomas Onken verwies bei der Wahl 1995 Amtskollege Uhlmann sogar auf den zweiten Platz. Ein Kantonsverräter hätte das wohl kaum geschafft.

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