News aus dem Thurgau

«Zum Glück mischt sich die Kirche in die Politik ein!»

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24.04.2018
Ohne die Kirche und ihre Freiwilligen hätte Deutschland die Flüchtlingsströme im Jahr 2015 nicht bewältigen können, sagt der Theologe Wolfgang Huber. Es sei gut, dass die Kirche sich in der Flüchtlingspolitik einmische.

Am Freitag, 20. April trafen sich in der Kartause Ittingen Theologinnen, Theologen und Interessierte aus der Schweiz, Österreich und Deutschland zur 67. Internationalen Theologischen Bodenseekonferenz. Mit einem prominenten Gast: Wolfgang Huber, Ethiker, ehemaliger Landesbischof und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sprach zum Thema «Zwischen Reformationsjubiläum und Protest – wie kann Theologie öffentlich werden?» und zeigte dabei, wie die EKD durch ihre Stellungnamen die deutsche Friedens- und Ostpolitik entscheidend mitgeprägt hat. Dem «Kirchenboten» antwortete er auf Fragen, die heute an die Kirchen gestellt werden, vor allem im Bereich der Migration.

Herr Huber, was sagen Sie den Menschen, die der Kirche vorwerfen, sich unbefugt in die Politik einzumischen, zum Beispiel beim Flüchtlingsthema?
Da kann ich nur sagen: Zum Glück mischt sich die Kirche da ein! 2015 hätte die deutsche Gesellschaft die Flüchtlingsströme gar nicht bewältigen können ohne die Grosszügigkeit vieler Menschen, auch Christen und Kirchgemeinden, die die so genannte Willkommenskultur mit Inhalt gefüllt haben. Zu Zeiten des grössten Andrangs gab es in manchen Gemeinden so viele freiwillig Helfende wie Flüchtlinge in der Region.

Aber der Vorwurf ist doch gerade, dass diese «Willkommenskultur» von Angela Merkel ein riesengrosser Fehler war, den die Kirche unterstützt hat.
Wer die Entscheidung, im September 2015 die Grenzen zu öffnen, für falsch hält, muss erklären, wie er oder sie es ethisch gerechtfertigt hätte, diese auf der Balkanroute blockierten Menschen einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Der Fehler ist, dass man so tut, als sei diese in einer Krise gefallene Entscheidung die generelle Marschroute der deutschen Flüchtlingspolitik. Das ist vollkommen falsch. Die Kurskorrektur hat schon im Winter 2015/2016 stattgefunden, 2016 und erst recht 2017 sind viel weniger Menschen nach Deutschland gekommen. Das ist die Realität, von der man ausgehen sollte. Stattdessen haben wir eine sich verselbständigende Flüchtlingsdebatte erlebt, die mit der politischen Realität nichts zu tun hatte. Daran sind auch die Kirchen nicht ganz unschuldig. Sie haben die Rechtfertigung für die Entscheidung von 2015 zum einzigen Thema gemacht, ohne zu fragen, wie es danach weitergehen sollte und weitergegangen ist. Wie wir für die Zukunft eine kontrollierte Durchlässigkeit der Grenzen erreichen können.

Also hat sich die Kirche nicht zu viel, sondern zu wenig mit Politik beschäftigt?
Genau. Der Fehler war nicht, dass die Kirche sich in politische Fragen eingemischt hat, sondern dass sie ihre Grundsatzposition der Hilfsbereitschaft nicht sorgfältig genug mit der Frage nach den politischen Rahmenbedingen verknüpft hat.

Wie stehen Sie in diesem Zusammenhang zum Kirchenasyl, das einige Kirchgemeinden Menschen gewähren, die von Abschiebung bedroht sind? Bei uns in Basel hat die Kirchenleitung vor zwei Jahren argumentiert, dass es ein Kirchenasyl im rechtlichen Sinn nicht gebe. Die besetzte Kirche wurde polizeilich geräumt.
Ich habe als Bischof von meinem ersten Tag an unmittelbar mit Kirchenasyl zu tun gehabt und mich dabei immer auf den Stadtpunkt gestellt, dass Kirchenasyl nicht ein Bruch des staatlichen Rechts ist, sondern ein Dienst am staatlichen Recht. Kirchenasyl tritt dort ein, wo durch eine staatliche Entscheidung unmittelbare Gefahr für Leben oder Freiheit eines von der Abschiebung bedrohten Menschen oder einer Familie entsteht. Die Kirchgemeinde hält den Vollzug dieser Entscheidung dadurch auf, dass sie zeitlich begrenzt Kirchenasyl gewährt, die Behörden darüber informiert und sie darum bittet, die Entscheidung noch einmal zu überprüfen. Mit einigem Erfolg. Seit es das Kirchenasyl in Deutschland gibt, sind die Entscheidungen der Behörden in weit mehr als der Hälfte der Fälle revidiert worden. Da haben wir also ganz praktisch dem Rechtsstaat einen Dienst erwiesen. Inzwischen gibt es eine Vereinbarung zwischen den Kirchen und der Bundesregierung über die Regeln, nach denen ein Kirchenasyl abzulaufen hat, wie informiert wird, inwieweit staatliche Entscheidungen dann auch respektiert werden müssen.

Im deutschen Bundesland Thüringen wird die Kirche gerade heftig von der AfD angegriffen, unter anderem wegen ihrer Haltung zum Kirchenasyl. Kann man eigentlich Christ sein und mit der AfD sympathisieren?
Die Frage stellt sich in meinen Augen anders. Wir müssen sorgfältiger unterschieden zwischen dem Programm der AfD und den Menschen, die sich davon angezogen fühlen. Das Programm der AfD wird nicht erst für Christen unerträglich, weil die AfD inzwischen kirchenfeindliche Züge annimmt, sondern es ist als solches mit christlichen Überzeugungen nicht vereinbar. Und dann gibt es Menschen, die sich als Wähler oder als Mitglieder der AfD von diesen Positionen verführen lassen. Da müssen wir fragen: Was sind eigentlich die Gründe für diese Verführbarkeit? Was sind die Ängste, die Befürchtungen, die Enttäuschungen der Menschen, die da mitmachen? Mit unserem seelsorgerlichen Auftrag muss uns doch stärker daran gelegen sein, diese Menschen zurückzugewinnen als Abgrenzungsdiskussionen zu führen. Aber damit haben wir gerade erst angefangen, da liegt noch viel Arbeit vor uns.

Sie sagen, das Programm der AfD sei nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar. Aber wer bestimmt denn, was mit dem christlichen Glauben vereinbar ist?
Evangelische Christinnen und Christen tun das durch das Hören auf das Evangelium und ihre Bereitschaft, daraus Konsequenzen zu ziehen. Wir sind eine Kirche des Priestertums aller Getauften und keine Lehramtskirche.

Dann dürfen Christen auch sagen, dass Abtreibung oder Ehe für alle nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar sei.
Das ist so. Aber in diesen beiden Fragen haben wir in einer offenen und partizipativen Diskussion in unseren Kirchen die Grenzen dieser Positionen aufgezeigt. Im ersten Fall haben wir gezeigt, dass es das Gegenteil bewirkt, wenn die Bewahrung des Lebens mit Zwang gegen die Mutter erreicht werden soll. Im anderen Fall haben wir erkannt, dass bei uns lange Zeit die Verurteilung einer bestimmten Lebensform an die Stelle von einer Wachheit für die Grundmotive des Evangeliums getreten war: wechselseitige Liebe, Offenheit füreinander, Achtung für die Lebenssituation des anderen, Verlässlichkeit und Verantwortung. Da sind wir einen grossen Schritt weitergekommen und haben theologisch bei der Auslegung des Evangeliums dazugelernt.

Interview: Marianne Weymann, kirchenbote-online, 24. April 2018

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