Wie viel muss ich wissen?
Wir stopfen unsere Kinder mit Wissen voll und lassen sie gleichzeitig verhungern. Ist dies die neue «Bildungskatastrophe»?
«Mehr Bildung!» Dieser Ruf erschallt bei welchem Problem auch immer, ob bei Armut, Migration oder Klimakrise. Doch welche Art Bildung? Schon Albert Schweitzer betrachtete den ungeheuren Zuwachs an reinem Wissen mit grosser Sorge. Der moderne Mensch verkümmere zusehends ethisch-geistig. Bereits in den 1980er-Jahren prägte der Basler Professor für physikalische Chemie, Max Thürkauf, den Begriff «Wissenszeitalter» als Nachfolge der Industrialisierung. Die fulminante Vermehrung naturwissenschaftlichen Wissens sei nur durch die Abstinenz von der zeitfordernden Philosophie möglich. Aber: «Im Gegensatz zum Wissen veraltet Weisheit nie.»
Gudrun Sidonie Otto, Pfarrerin und Konzertsängerin
Wenn sogar der Bildungsdirektor der OECD und Erfinder der Pisa-Studie, Andreas Schleicher, warnt, Kinder und Jugendliche würden nicht gut genug auf das wirkliche Leben vorbereitet, ist es dann nicht schon kurz vor zwölf? Seine Lösung: weniger Stoff, dafür mehr Tiefe. «Die Schüler müssen mehr ins Tun kommen»: Selbst denken, Dinge anwenden und mit anderen zusammenarbeiten.
«Die Leute brauchen nicht so viel nachzudenken, was sie tun sollen; sie sollten vielmehr bedenken, was sie sind», so Meister Eckhart, der den Begriff «Bildung» prägte. Findet ein 12-Jähriger heute noch heraus, wer er ist, wenn lediglich drei kognitve Fächer entscheiden, wie er im Schulsystem besteht: Mathe, Deutsch und das sogenannte NMG?
Was ist mit Philosophie, Fremdsprachen, Musik und Kunst, Fächern, die einem jungen Menschen helfen, sich ganzheitlich zu entwickeln, seelisch und geistig, somit Weisheit ermöglichen? Diese zählen nicht. Statt oberflächliche Fakten in einer Art Bulimielernen in sich hineinzupumpen, tut tieferes Verständnis von Zusammenhängen not: die Verknüpfung von Wahrheit (als Paradigma der antiken Philosophie), Vernunft (Kant und die Aufklärung) und Verantwortung für eine zeitgemässe Ethik, sonst verhungern unsere Kinder – und mit ihnen unsere Gesellschaft!
Es geht nicht darum, das schulische Lernen zu verteufeln, sondern zu hinterfragen: Was lernt mein Kind, was bin ich selbst bereit zu lernen, wozu, und reicht das aus? Kunst und Kultur, ein gutes Buch, Gottesdienste, die sich dem Wesentlichen widmen, jenseits des Zeitgeists statt die 20. Soap im TV anzusehen, um «abzuschalten». Ist in diesem Sinne nicht weniger mehr?
Wie viel muss ich wissen?