Wie viel Gewicht hat die Religion?
Ein Teilaspekt der Befragung befasst sich mit der Voranstellung der eigenen Religion vor der Verfassung, der auch in der Thurgauer Zeitung thematisiert wurde. Befragt wurden über 3000 Menschen unterschiedlicher Konfession im Alter von über 16 Jahren. Die Auswertung zeigt, dass 23 Prozent der befragten Muslime der Religion im Konfliktfall Vorrang vor der Verfassung geben, bei den Katholiken sind es 13 Prozent und bei den Evangelisch-reformierten 12 Prozent. Mitglieder von Freikirchen schwingen mit fast 50 Prozent oben aus. Trotz der Zahlen hält der Studienautor Professor Antonius Liedhegener in seinem Fazit fest, dass ein Vorrang der Religion gegenüber der Verfassung selten ist und sich vor allem in Splittergruppen zeigt. Nur kleine Minderheiten würden Positionen vertreten, die als dogmatisch oder fundamentalistisch bezeichnet werden müssen.
Verantwortung wahrnehmen
Rehan Neziri, Imam der Albanisch-Islamischen Gemeinschaft in Kreuzlingen, bereiten diese Zahlen Sorge. «Schon ein Prozent wäre problematisch », fügt er an. Er sieht sich deshalb als Imam in der Verantwortung, solchen Tendenzen mit Vorträgen vor Jugendlichen und Erwachsenen sowie im Religionsunterricht entgegenzuwirken. Er sieht dies aber auch als Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Im Thurgau ist ihm nur jener Fall bekannt, bei dem ein Vater aus Kreuzlingen seine Tochter nicht zum schulischen Schwimmunterricht schicken wollte. Dies stiess bei Neziri auf Unverständnis, was er dem Vater auch kundtat. Auch könne man die Verfassung nicht mit dem Koran oder der Bibel vergleichen. «Die Schweizer Verfassung ist kein heiliges Buch, und der Koran keine Verfassung », sagt der Imam. In Konfliktfällen gilt für ihn das Verfassungsrecht und der religiöse Text bleibt, wo er hingehört. Dies gebe er auch seinen Gemeindemitgliedern weiter.
Viele Freiwillige
Die Thurgauer Sozialdiakonin Monica Ferrari ist überrascht über die hohe Zahl der Mitglieder der Freikirchen, die ihre Religion über die Verfassung stellen. Diese Mitglieder erfahren laut der Umfrage in der Schweiz am meisten Diskriminierung, seien auch am wenigsten bereit, einen Menschen zu heiraten, der der eigenen Freikirche nicht angehöre. Hier wäre es laut Ferrari wichtig, diese für den interreligiösen Dialog zu gewinnen, was bis jetzt nicht erfolgreich war. Was die beiden Vorstandsmitglieder an der Umfrage besonders freut, ist die hohe Bereitschaft aller Befragten, gleich welcher Religion oder Konfession sie angehören, sich ehrenamtlich zu engagieren. Dies beobachteten sie auch im Thurgau. Neziri sagt dazu: «Nur ich als Imam werde bezahlt, alle anderen arbeiten ehrenamtlich.» In der evangelisch- reformierten Kirche würde ohne Freiwillige nichts oder nur wenig laufen. Hier zeigt die Umfrage, dass Religion ein Pfeiler des freiwilligen gesellschaftlichen Engagements ist. Ein weiteres verbindendes Fazit der Umfrage besteht darin, dass jene Menschen den interreligiösen Dialog wertschätzen, denen ihre eigene religiöse Identität wichtig ist.
(Claudia Koch)
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