«Weihnachten handelt von einer kompletten Undenkbarkeit»
Sie sind ein Dichterpfarrer oder Pfarrerdichter. Wo treffen diese Welten aufeinander?
Die Theologie ist in ihrem Wesen lyrisch-poetisch. Sie spricht von Dingen, die man nicht einfach sprachlich abbilden kann. Die Lyrik sucht eine Sprache für die Welt, wo ich sie nicht verstehe. Als Christ strebe ich danach, Gott immer näher zu kommen, aber alle Ausdrucksformen, um ihn zu beschreiben, sind untauglich. Da kommt man in der Theologie zur Poesie, denn beide sind nichts anderes als eine Suche nach Sprache, wo ich nicht reden und auch nicht schwiegen kann.
Fehlt Ihnen die poetische Dimension in modernen Gottesdiensten?
Die vermisse ich in der Tat. Wir leben in einer Zeit grosser Unsicherheiten. Wir neigen dazu, uns in unseren Weltvorstellungen abzuschotten. Deshalb werden Gottesdienste gern als Ort der Beheimatung verstanden, aber wenn es sich dabei wirklich um Gott handelt, müssen sie auch radikal befremden, dann muss in ihnen mehr geschehen, als ich sagen kann.
Wohnt dieser Sprache Gott inne?
Auch Gott kann Heimat sein. Aber mit Gott haben wir es mit einer Grösse zu tun, die radikal grösser ist als alles, was wir uns vorstellen können. Allein das Wort «Gott» bezeichnet in der Sprache nichts. Das fühlt sich erst mal wie eine Dauerirritation an. Man möchte fragen: Wer bist du eigentlich? Um uns der Antwort zu nähern, brauchen wir Sprachformen, die das Unsagbare zum Ausdruck bringen. Beheimatung geschieht erst jenseits unserer Vorstellung.
Womit wir wieder bei der Lyrik wären. Viele Leute haben aber Mühe mit dieser Form der Sprache. Sie ist ihnen zu abstrakt.
Das ist eine interessante Frage: Warum erleben viele Leute das Lesen von Gedichten als abstrakt? Weil sie sich selbst einbringen müssen. In der Lyrik, in Gedichten, da bin ich gefragt. Ich muss den Bildern in mir Raum geben. Ich kann mich nicht konsumierend zurücklehnen. Immer weniger Leute sind heute bereit, sich dem Fremden zu öffnen. Das Gleiche gilt auch für das Gebet, denn im Gebet macht man die Erfahrung, mit etwas Fremdem in Berührung zu kommen.
Kommt man in Gedichten und Gebeten also den Geheimnissen dieser Welt auf die Spur?
Sowohl Poesie als auch Gebet wissen nicht mehr, als alle Menschen ohnehin wissen können. Aber sie stärken unser Gespür für das Unerwartete. Was mir vor Augen liegt, stellt sich mir plötzlich anders dar. Es gibt in dieser Welt eine Mehrdimensionalität, die mir nicht zugänglich ist. Aber in Gedicht und Gebet kann ich mich ihr nähern und sie empfinden.
Christian Lehnert ist ein deutscher Theologe und Schriftsteller, der durch seine Lyrik bekannt wurde. In Dresden geboren verweigerte in der DDR den Wehrdienst. Er studierte Religionswissenschaft, Evangelische Theologie sowie Orientalistik und gilt als Kenner der christlichen, jüdischen und muslimischen Religion. Seit mehr als 25 Jahren publiziert er Gedichtbücher und Prosabände, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Deutschen Preis für Nature Writing.
Der «Kirchenbote» traf Christian Lehnert anlässlich einer Lesung in Basel. Das Forum für Zeitfragen, die Fachstelle Gender und Bildung der Evangelisch-reformierten Kirche BL und die Buchhandlung Labyrinth in Basel hatten die Veranstaltung «Das Haus und das Lamm» organisiert.
An Weihnachten gehen viele Menschen in die Kirche, obwohl sie nicht gläubig sind. Kann Weihnachten eine Brücke zu dieser Mehrdimensionalität sein?
Weihnachten ist eine Insel der Hoffnung und des Glaubens, das stimmt. Zugleich stellen sich Fragen: Suchen die Menschen an Heiligabend in der Kirche wirklich Gott? Oder suchen sie eher familiäre Behaglichkeit? Weihnachten ist für viele ein letzter Berührungspunkt mit einer Realität ausserhalb der Realität.
Sie sprechen davon, wie wichtig es ist, Beheimatung zu finden. Ist denn familiäre Behaglichkeit nicht auch eine Form von Heimat?
Auf jeden Fall! Gott ist überall. Er durchdringt alles. Der Weihnachtsgottesdienst kann ein Raum sein, in dem die Menschen Gott näher kommen. Der Weihnachtsabend ist ein Sehnsuchtsort – das ist nicht leicht zu nehmen.
Sie klingen zwiegespalten.
Weihnachten handelt in sich von einer kompletten Undenkbarkeit. Das ist die grosse Irritation: Gott, der Unsagbare, der alles in allem ist – und das Kind in der Krippe. Das ist ein mythisches Paradox. Leider ist das Fest stark von kulturellen Mustern überlagert, die der Massenproduktion folgen. Mit Religion und Glauben hat das nicht viel zu tun.
Sie sind in der DDR in einem atheistischen Staat und in einer areligiösen Familie aufgewachsen. Wie erlebten Sie Weihnachten?
Obwohl wir nicht religiös waren, sind wir zu Weihnachten trotzdem in die Kirche gegangen. Allerdings nicht etwa, weil wir dort Gott finden wollten, sondern weil wir auf die politischen Aussagen des Pfarrers lauerten.
Es geht bei Weihnachten nicht nur um den Gottesdienst. Man nennt es auch das Fest der Hoffnung.
Ja, es ist ein Fest der Hoffnung – darauf etwa, dass Gott den Menschen zu sich selbst führt. Aber ich bin zugleich wieder gespalten: Hoffnung? Die christliche Hoffnung bewegt sich fern von allem, was ich erhoffen kann. Die religiöse Hoffnung übersteigt meinen Horizont. Leider lauert zu Weihnachten überall der Kitsch, der einlullen will.
Weihnachtsgedichte sind also weniger Ihres?
Im Gegenteil, es gibt wunderschöne Weihnachtsgedichte! Eines meiner liebsten ist «Ich steh an deiner Krippen hier» von Paul Gerhardt. «O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen!» Ich finde bei aller Skepsis, dass Weihnachten ein ganz wunderbares Fest ist. Schliesslich bin auch ich einer, der Beheimatung sucht. Die finde ich in vertrauten Bräuchen und eben in Liedern und in Gedichten.
«Weihnachten handelt von einer kompletten Undenkbarkeit»