News aus dem Thurgau

Wahrheit in Wissenschaft und Glaube

min
24.02.2016
Der St.Galler Katholik und Philosoph Michael Rüegg hat sich intensiv mit religiösen und wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen beschäftigt. Zu den zentralen Errungenschaften der Moderne gehört für ihn die Glaubensfreiheit. Der Kirchenbote fragte nach.

Herr Rüegg, Religion wird heute oft als Bedrohung für die moderne Gesellschaft wahrgenommen. Warum?

Wir leben in einer Zeit, wo die «weltanschauliche Polarisierung» zunimmt, wie der Philosoph Jürgen Habermas vor einigen Jahren schrieb. Der Ausbreitung eines naturalistischen Weltbilds, in dem der Mensch zu einem unpersönlichen Objekt atomisiert wird, steht die politische Radikalisierung von religiösen Glaubensgemeinschaften gegenüber, aktuell vor allem in der islamischen Welt. Diese gegenläufigen Tendenzen, die vielen Menschen zu Recht Angst machen, haben vielleicht mehr miteinander zu tun, als es auf den ersten Blick scheint. Beide, also die gnadenlose Verwissenschaftlichung auf der einen und religiöse Fanatiker auf der anderen Seite, bedrohen mit ihren vermessenen Wahrheitsansprüchen Bereiche unserer persönlichen Freiheit. 

Dann sind Moderne und Religion unversöhnliche Gegensätze? 

Diese These von der Unversöhnlichkeit ist tatsächlich populär. Und historisch gesehen teilweise richtig. Ich denke hier beispielsweise an den Widerstand in der Katholischen Kirche gegen Wissenschaft und Liberalismus bis weit hinein in das 20. Jahrhundert. Aus etwas Distanz betrachtet aber wird aus dem vermeintlichen Gegensatz ein gelassenes Verhältnis, freilich nur unter der Voraussetzung, dass beide Sphären ihre Wahrheitsansprüche nicht mit einem politischen Heilsversprechen vermischen.

«In einer pluralistischen Gesellschaft kann der persönliche Glaube nie Massstab für alle Menschen sein.»

Wie lässt sich diese Vermischung vermeiden? 

Das ist die Grundfrage der Moderne. Nehmen wir die Wissenschaften. Diese gründen in einem unbedingten Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Ihre Erkenntnisse sind immer Massstab für alle Menschen, ob in Zürich, Istanbul oder auf den Osterinseln. Darum gibt es auch keine jüdische Physik oder christliche Biochemie. Diese Universalität ist aber an die Einschränkung von Geltungsansprüchen gebunden. Wissenschaftliche Aussagen sind vorläufig und taugen nicht dazu, verbindliche Regeln für unser Zusammenleben zu diktieren. Das ist Sache von Gesellschaft und Politik. 

Und religiöse Wahrheiten?

Anders als in den Wissenschaften sind Glaubenswahrheiten absolut. Die Auferstehung beispielsweise ist für Christen nicht verhandelbar. Sie übersteigt jede Erkenntnisfähigkeit und bleibt ein Geheimnis des Glaubens. Aber auch hier gibt es eine klare Einschränkung des Geltungsanspruchs. In einer pluralistischen Gesellschaft kann der persönliche Glaube nie Massstab für alle Menschen sein. Denken wir beispielsweise an das jüdische Gebot der Knabenbeschneidung, das nur für Juden gilt, oder die Ablehnung der Frauenordination in der Katholischen Kirche, die nur für Katholiken gilt. Solche Glaubensvorgaben werden durch die Religionsfreiheit geschützt und geraten nicht in Konflikt mit einer liberalen Rechtsordnung. 

So hat auch die Religion in der modernen Welt ihren Platz und ihre Bedeutung

Unbedingt. Die Glaubensfreiheit gehört zu den zentralen Errungenschaften der Moderne. Im Christentum ist die Trennung von weltlicher und geistiger Ordnung ja bereits von Anfang an angelegt. Im Markusevangelium sagt Jesus: «Gebt Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist». Die Geschichte des Christentums zeigt dann aber gerade, wie schwierig es ist, diese zwei Sphären der Wirklichkeit von vermessenen Ansprüchen freizuhalten. Die Selbstvergottung und der Gottesstaat bleiben stete Versuchungen, und das bis in die Gegenwart. Um was es im Kern hier geht, formulierte der emeritierte Papst Benedikt XVI. einmal so: «Die Vernunft wird ohne den Glauben nicht heil, aber der Glaube wird ohne Vernunft nicht menschlich.» Das heisst, wir brauchen beide Sphären für eine moderne, menschenfreundliche Gesellschaft.

Dann bin ich als Christ, als Christin doch auch in der öffentlichen Sphäre spürbar?

In jedem Fall, ich bin Christ und Bürger. Als glaubende Person bringe ich das Element der Verantwortung hinein, indem ich beispielsweise beim Gebrauch von Wissenschaft und Technik frage, was dem Menschen, was der Gemeinschaft dient. Das Christentum ist, wie die Trinität, gemeinschaftlich angelegt. So gesehen sind wir als Menschheitsfamilie verbunden durch
alle Generationen – in Adam, dem ersten Menschen, bis zum letzten Menschen vor dem Jüngsten Gericht.

Interview: Andreas Schwendener | Foto: zVG  –Kirchenbote SG, März 2016

 

Unsere Empfehlungen

Fünf Chöre, drei Nationen, eine Familie

Rund 400 Sängerinnen und Sänger trafen sich Anfang Juni 2017 in St.Gallen: Fünf Chöre aus drei Nationen wuchsen während zehn Tagen zu einer Familie zusammen und begeisterten mit zwei Konzerten sowie einem Auftritt am Schlussgottesdienst in der Olma-Halle.