News aus dem Thurgau

Verliert Thurgauer Kirche ihre Talente?

von Ernst Ritzi
min
19.09.2024
Was zieht junge Menschen mit einer kirchlichen Ausbildung in die Stadt? Und was bewegt junge Thurgauerinnen und Thurgauer, als ausgebildete Pfarrpersonen oder Diakone wieder in ihre Heimatkirche zurückzukehren?

Dass Randkantone wie der Thurgau ihre klugen Köpfe an die Universitätskantone und Wirtschaftszentren verlieren, ist eine Tatsache. Obwohl sich die betroffenen Kantone den Kopf darüber zerbrechen, sind sie mehr oder weniger machtlos.

«Brain-Drain» nennt sich die Abwanderung von gut ausgebildeten jungen Leuten vom Land in Städte. Das gleiche Phänomen ist auch zwischen Entwicklungsländern und den grossen Industriezentren der Welt zu beobachten.

Kirchliche Berufe: Viele kehren in den Thurgau zurĂĽck

Bei den kirchlichen Berufen – etwa bei Pfarrpersonen und Diakoninnen und Diakonen – lässt sich kein «Brain-Drain» feststellen. Die meisten jungen Menschen, die ausserhalb des Kantons – an den Theologischen Fakultäten in Zürich, Basel oder Bern oder am Theologisch-diakonischen Seminar TDS in Aarau – ihre akademische Ausbildung absolvieren, kehren in den Thurgau zurück.

Bei den Pfarrpersonen ist der Thurgau auch für junge Pfarrerinnen und Pfarrer aus anderen Landeskirchen durchaus attraktiv. Wenn sich junge Thurgauerinnen und Thurgauer nach ihrer kirchlichen Ausbildung für eine Arbeitsstelle in einer anderen Deutschschweizer Landeskirche entscheiden, hat das aufgrund der Beobachtungen der letzten Jahre in den meisten Fällen auch persönliche Gründe.

Weshalb fĂĽr oder gegen Thurgau entschieden?

Der Befund, dass es bei den kirchlichen Berufen keinen «Brain-Drain» im Thurgau gebe, stützt sich auf Beobachtungen der letzten Jahrzehnte. Er ist nicht durch eine Statistik erhärtet. Die Redaktion des Kirchenboten hat zwei ehemalige Thurgauer Theologiestudierende gefragt, ob sie das auch so sehen, dass es in den kirchlichen Berufen – entgegen der allgemeinen Beobachtung – keinen «Brain-Drain» nach Zürich gibt. Wir wollten aber noch etwas tiefer gehen und haben die zwei Pfarrpersonen gefragt, warum sie sich für oder gegen eine Pfarrstelle in ihrer Thurgauer Heimat entschieden haben.

 

Das meinen Matthias Maywald und Judith Engeler:

 

Notgedrungen, aber nicht ungern

Matthias Maywald, Pfarrer in Roggwil und Dekan des Kapitels Obersee

«Ich bin mehrheitlich im Thurgau aufgewachsen. Während des Studiums zog ich nach Winterthur, wo ich meine Frau kennenlernte und das Lernvikariat absolvierte. Meine Ordination fand dann in der Thurgauer Landeskirche statt. Anschliessend kehrte ich nochmals an die Uni zurück, um eine Doktorarbeit zu schreiben. Nach der Geburt unseres Sohnes zogen wir nach Zürich-Wollishofen.

Als sich die Frist für meine Anstellung an der Uni im Sommer 2016 näherte, machte ich mich auf die Suche nach einer Pfarrstelle. Auch aus Rücksicht auf meine 'multinationale' Familie bewarb ich mich zunächst auf verschiedene Stellen in der Stadt Zürich und der näheren Umgebung. Ohne Erfolg. Die Gründe waren verschieden: Zum einen befanden sich die Stadtzürcher Kirchgemeinden in einem Fusionsprozess und suchten dafür eher erfahrene Pfarrpersonen. Zum anderen hatten die meisten ausgeschriebenen Stellen den Schwerpunkt 'Kinder und Familien' – und die Arbeit mit dieser Zielgruppe traute man mir als Doktoranden wohl nicht genügend zu.

In dieser Zeit hörte ich davon, dass die Evangelische Kirchgemeinde Neukirch an der Thur eine Pfarrperson suchte. Obwohl die Bewerbungsfrist abgelaufen war, bewarb ich mich dort und wurde schliesslich zur Wahl vorgeschlagen. So kehrte ich damals in den Thurgau zurück – zwar eher notgedrungen, aber auch nicht ungern, war es doch für mich persönlich eine Rückkehr in die Heimat.»

GlĂĽcklich in der Stadt

Judith Engeler, Pfarrerin in Zürich und Oberassistentin an der Universität Zürich

«Ich bin aktuell ein 'Brain-Drain'-Fall: Nebst einer nur noch sehr tiefprozentigen Anstellung als Pfarrerin in der Reformierten Kirchgemeinde Zürich bin ich als Oberassistentin am Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte angestellt. Hier schreibe ich an einer Habilitation über Karl Rudolf Hagenbach, einen Theologen des 19. Jahrhunderts. Dafür brauche ich die Universität Zürich und ihr Stellenangebot.

Aber auch schon davor hatte ich in Zürich eine Pfarrstelle inne. Ich schätze nicht nur die vielfältigen Möglichkeiten, die mir als Privatperson in der Stadt offenstehen, sondern bin auch in beruflicher Hinsicht glücklich in Zürich. Zwei Jahre lang war ich im Kirchenkreis 9 als Pfarrerin tätig und konnte dort dank der Grösse mit vielen anderen Pfarrpersonen und Mitarbeitenden zusammenspannen. Der Austausch und das gegenseitige voneinander Lernen in einem grossen Team war gerade für mich als Berufsanfängerin Gold wert.

Einen weiteren Vorteil sehe ich in den erweiterten Möglichkeiten in einer grossen Kirchgemeinde wie diejenige Zürichs. Aus den in der Coronazeit entstandenen Videogottesdiensten entstand das Youtube- Projekt 'OMG!', bei dem ich immer noch als Host von 'Tacheles mit Judith' dabei bin. Solche Chancen können nur grosse Kirchgemeinden bieten. Ein weiteres kleines Plus: In der Stadt lebt man als Pfarrerin nicht anonym (zum Glück), aber die soziale Kontrolle scheint mir kleiner zu sein als auf dem Land. Das Unkraut in meinem Pfarrgarten hat meines Wissens niemanden gestört.»

 

 

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