Ursprung der Gewalt
Beide Brüder bringen Gott ein Opfer dar. Das Opfer von Abel sieht Gott gnädig an, aber jenes von Kain nicht. Warum Gott so entscheidet, bleibt zunächst fraglich. Dabei ist doch Kain der ältere Bruder und künftige Erbe. Der jüngere Abel hütet bei ihm die Schafe, aber Weideland und Tiere gehören später einmal Kain. Also müsste Gott doch Kain und nicht Abel gnädig anschauen!
Gott scheint mitschuldig zu sein am Brudermord, weil er den falschen bevorzugt hat. Kein Wunder, dass Enttäuschung, Wut und Zorn Kain überwältigen! Denn er fühlt sich irgendwie von Gott enteignet. Und überhaupt: Warum kann Gott nicht beide Brüder gnädig anschauen? Warum muss er wählen? Sieht Gott etwas, was wir noch nicht sehen?
Als die Menschen sesshaft wurden
Der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel haben vor ein paar Jahren ein erhellendes Werk publiziert: Das Tagebuch der Menschheit. Der Untertitel lautet: Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Demnach zeigt die Geschichte von Kain und Abel die Probleme auf, mit denen sich die Menschen vor etwa 10‘000 Jahren konfrontiert sahen. Damals begannen unsere Vorfahren sesshaft zu werden. Sie bauten Häuser und Dörfer, domestizierten Ziegen und Schafe, produzierten Getreide. Das Leben, wie wir es kennen, begann seinen erfolgreichen Lauf.
Aber wie lebten unsere Vorfahren, bevor sie sesshaft wurden? Nach neuestem Forschungsstand waren sie während mindestens 300‘000 Jahren als Jäger und Sammler unterwegs. Sie hatten etwas entdeckt, was ihre Artverwandten aus der Tierreihe so nicht kannten: zusammenarbeiten, teilen, nicht dominieren.
Bei Gorillas und Schimpansen entscheidet die körperliche Kraft darüber, wer dominieren darf, wer Alpha-Tier ist. Und diesem Anführer muss sich die Gruppe beugen. Nicht so bei unseren Vorfahren: Anführer waren hier nicht so wichtig. Im Gegenteil, wer allzu bestimmend oder gewaltbereit war, wurde aus der Gruppe ausgeschieden. «Brudermörder» hatten keine Chance. Privilegien gab es kaum. Jedes Mitglied war wichtig für das Jagen und Sammeln. Gemeinsamkeit war hilfreicher als Dominanz und Macht.
+++ Brudermord im Hinterland +++
Vor ein paar Tagen hat ein Bauer in einer entfernten Landesgegend einen Hirten erschlagen. Wie die Polizei mitteilte, sind Täter und Opfer Brüder. Bis jetzt ist Folgendes bekannt: Zwischen den Beiden herrschte seit Jahren ein gespanntes Verhältnis. Der Bauer verbot dem Hirten, die Schafe auf seinem Land weiden zu lassen. Aber der Hirte brauchte in der Trockenzeit einen Teil dieses Weidegrunds für seine Tiere. Zudem konnte der Bauer sein Besitzrecht nicht nachweisen. Er beharrte lediglich darauf, weil er der Ältere war.
Beide Brüder galten übrigens als fromm und arbeitsam. Aber es kamen Jahre, da hatte der Bauer schlechte Ernten, der Hirte hingegen schönen Erfolg. Der Bauer hielt das für ein Zeichen, dass sein Bruder bei Gott bessere Karten habe als er selber. Diese wahnhafte Vorstellung machte ihn rasend vor Zorn und Verzweiflung. Er wollte mit dem Bruder reden. Ein Wort gab das andere. Als alle vernünftigen Argumente versagten, rastete der Bauer aus und erschlug den Hirten mit einem Holzscheit. Auf unerklärliche Weise konnte der Brudermörder nachts aus der U-Haft entweichen. Bis heute fehlt von ihm jede Spur.
Wie Ungerechtigkeit entsteht
Über Jahrhunderttausende gab es bei unseren Vorfahren nichts zu vererben. Einzig das Wissen um Jagdtechniken wurde in den Generationen weitergegeben. Das reichte zum Leben. Als die Menschen sesshaft wurden, änderte das ziemlich rasch: es entstand Eigentum an Boden, Tieren, Waren, Gütern, Gold usw. Und jetzt begannen die Führernaturen, die Alphas, aufzusteigen, die vorher keine Chance hatten. Damit ihr Reichtum beisammenblieb, bestimmten sie, dass der Erstgeborene alles erben soll. Die übrigen Geschwister gingen meistens leer aus.
So konnte es durchaus zum Brudermord kommen. Die Enterbten begehrten auf, wurden aber in der Regel von den Vermögenden mundtot gemacht oder im schlimmsten Fall beseitigt: Kain erschlägt Abel. So gesehen ist dieser Mord eine ferne Erinnerung an die schwierige Zeit, als die Menschen sesshaft wurden. Über fast unendlich lange Zeit hinweg waren sie gewöhnt an gemeinsames Teilen, und jetzt gab es plötzlich wenige Besitzende und viele Besitzlose. Ungerechtigkeit und Ungleichheit erzeugen Spannung, Gewalt und Krieg.
Milde Strafe – steile Karriere
Merkwürdigerweise bestraft Gott den Brudermörder Kain nur milde. Er muss in der Fremde ein unstetes Leben führen und bekommt von Gott sogar ein Schutzzeichen mit der Zusicherung: Wenn jemand Kain totschlägt, soll das siebenfach gerächt werden. Wir setzen vielleicht ein Fragezeichen hinter diese Rechtspraxis. Aber sie macht auch nachdenklich: Gott gibt sogar dem Mörder eine zweite Chance! So generös geht es nicht überall zu auf der Welt. In 52 Staaten gibt es immer noch die Todesstrafe.
In der Fremde nützt Kain seine zweite Chance. Er gründet eine Siedlung mit dem vielsagenden Namen Stadt der Krieger. Wichtige kulturelle Impulse gehen von seinen Nachkommen aus. In der sesshaften Welt können sich die Alphas, die patriarchalen Führernaturen, voll entfalten. Sie erhalten und vermehren ihren Besitz, erobern und kolonisieren Ländereien, sichern für sich Ressourcen. Wer sich ihnen widersetzt, der muss mit Gewalt und Krieg rechnen.
Aus dem Patriarchat entwickeln sich die Staaten und mit ihnen Autokratien und Despotien. Demokratische Verhältnisse und Menschenrechte sind späte und stets gefährdete Errungenschaften. Freilich braucht es für deren Verwirklichung auch die Zugkraft der Alphas.
«Lernort» Tatort
Wer die Macht hat, hat meistens auch das Geld. Abel hat beides nicht. Überhaupt sagt er kein Wort in dieser Geschichte. Dafür aber schreit sein Blut zum Himmel. Und darauf hat Gott acht. Gott hat Abel gnädig angesehen, weil er wusste, wie Kain mit ihm umspringen wird. Und ich bin gewiss, dass die unzähligen Menschen, die Opfer der Kainiten dieser Welt geworden sind, von Gott angesehen und unvergessen bleiben. Die Mörder werden nicht für immer über ihre Opfer triumphieren. Denn was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, um das Starke in Frage zu stellen. (1. Korintherbrief 1,27)
Ursprung der Gewalt