News aus dem Thurgau

Thurgau diskutiert assistierten Suizid

von Roman Salzmann / pd
min
21.03.2024
Die Thurgauer Pflegeeinrichtungen sollen weiterhin selbst entscheiden, ob sie in ihren Räumen Sterbehilfe zulassen oder nicht. Das hat der Thurgauer Grosse Rat entschieden. Ist das in Ordnung? Diskutieren Sie mit.

Der Evangelische Kirchenrat des Kantons Thurgau hat den Mitgliedern des Grossen Rates einen Brief geschrieben. Grund: Der Thurgauer Grosse Rat musste über die vorläufige Unterstützung der Parlamentarischen Initiative «Selbstbestimmung am Lebensende auch in Pflegeeinrichtungen» entscheiden. Mit dem Entscheid hätte sich der Grosse Rat selbst den Auftrag erteilt, im kantonalen Gesundheitsgesetz eine rechtliche Grundlage zu schaffen, die Pflegeeinrichtungen und Spitäler im Kanton Thurgau verpflichten würde, in ihren Räumen «assistierten Suizid» zuzulassen. In rund 60 Prozent der Thurgauer Pflegeeinrichtungen ist der assistierte Suizid bereits möglich.

Regierungsrat gegen Zwang
Der Evangelische Kirchenrat unterstützte die Haltung der Thurgauer Regierung, die sich in ihrer Stellungnahme zur Parlamentarischen Initiative gegen eine bindende Verpflichtung für die Pflegeeinrichtungen ausgesprochen hatte.

Die Regierung hatte bereits im März 2023 in der Antwort auf eine Einfache Anfrage aus dem Grossen Rat geschrieben: «Der Regierungsrat befürwortet die geltende Regelung, die den Institutionen die Entscheidung überlässt, den begleiteten Suizid in den eigenen Räumlichkeiten zuzulassen. In den Leistungsaufträgen der Spitäler ist das Umsetzungskonzept ‹Palliative Care Thurgau› als verbindliche Grundlage enthalten. Die Pflegeheime im Kanton Thurgau haben die Regelung der Suizidbeihilfe in die Konzepte der Palliative Care integriert. Die Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Thurgau können wählen, in welches Pflegeheim oder welchen Spital sie eintreten. Die freien Plätze der Pflegeheime müssen auf der Webseite der Curaviva Thurgau publiziert werden. Das verfassungsmässige Recht auf einen assistierten Suizid ist grundsätzlich gewährleistet, und gleichzeitig werden die Interessen der Pflegeheime und der dortigen Fachkräfte respektiert, was der Regierungsrat als ideale Regelung ansieht.»

Starke Belastung
In seinem Brief an die Mitglieder des Grossen Rates gab der Kirchenrat zu bedenken, dass die Pflegenden durch diese zusätzliche «Dienstleistung» und die entsprechende Betreuung der Sterbewilligen und ihrer Angehörigen «zusätzlich zeitlich und emotional stark belastet» würden. Ein Obligatorium der Zulassung von Sterbehilfe befördere die Selbstwahrnehmung pflegebedürftiger Menschen als «Belastung und Kostenfaktor». Eine individuelle Selbstbestimmung der pflegebedürftigen Menschen und des Pflegepersonals setzt nach Ansicht des evangelischen Kirchenrates analog zur Haltung der Regierung voraus, dass Pflegeinstitutionen entscheiden können, ob sie in ihren Räumen assistierten Suizid zulassen wollen oder nicht.

Der Grosse Rat hatte Gehör für diese Argumente: Am Mittwoch, 20. März 2024, lehnte er die Parlamentarische Initiative ab. Die Alters- und Pflegeheime im Kanton Thurgau können also weiterhin selbst entscheiden, ob sie in ihren Räumen den assistierten Suizid zulassen möchten. Über folgenden Link lässt sich die Debatte als Video nachverfolgen.

 

 

Curaviva unterstützt heutige Praxis
Curaviva Thurgau äusserte sich in einer Stellungnahme im Vorfeld kritisch zur eingereichten Initiative. Der Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter setzte sich dafür ein, dass die aktuelle Praxis bestehen bleibt, schrieb «forumKirche», das Magazin der katholischen Pfarreien im Thurgau und in Schaffhausen. Curaviva Thurgau sehe indes gute Gründe für beide Haltungen: Für Suizidhilfe spreche die Autonomie des Einzelnen. Dagegen sprächen folgende Faktoren: 1. ethische Bedenken, also die Achtung des Lebens, 2. das Risiko des Missbrauchs und 3. psychologischer Druck. Nur schon das Wissen, dass in einer Institution Suizidhilfe möglich sei, könne für einen betagten Menschen Druck aufbauen.

Auch Pflegeteams würden emotional und moralisch stark belastet durch einen Wunsch nach Suizidhilfe. Deshalb plädiert Curaviva Thurgau laut «forumKirche» dafür, dass Institutionen in die Möglichkeit der Suizidhilfe hineinwachsen, statt dass diese gesetzlich erwirkt wird. Aufgrund der Recherchen fügt «forumKirche » noch einen weiteren Punkt hinzu: «Auch die Mitbewohnenden werden durch einen assistierten Suizid stark belastet.» Allerdings lässt «forumKirche» im Beitrag auch durchblicken, dass kaum eine Institution bereit war, Auskunft zu erteilen, weshalb sie sich gegen Suizidhilfe ausspricht. Dies, obschon der Kanton Transparenz bezüglich Kommunikation verlangt.

Nutzen Sie die Kommentarfunktion, um über den Etnscheid des Grossen Rats mitzudiskutieren.

 

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