News aus dem Thurgau

So alt wie die Schweiz und am 1. August dabei

von Ernst Ritzi
min
28.07.2023
«Maria» könnte viel erzählen. In letzter Zeit hatte die älteste datierte Thurgauer Kirchenglocke viele ausserordentliche Einsätze. Corona und der Krieg in der Ukraine haben die Mesmerinnen und Mesmer vor schier unlösbare Herausforderungen gestellt.

Sie ist so alt wie die Schweiz, aber zum Nationalfeiertag läutet sie am 1. August zusammen mit ihren beiden jüngeren Kolleginnen erst seit 1891. Die Glocke heisst «Maria», und sie gehört wohl seit jeher zum Geläut der Propstei in Wagenhausen. In letzter Zeit hat «Maria» – wie viele ihrer jüngeren Kolleginnen in den Thurgauer Kirchtürmen – nicht nur am 1. August geläutet. Das ausserordentliche Läuten in der Coronazeit und für den Frieden und gegen den Krieg in der Ukraine hat zu Tage gefördert, dass kirchliche Behörden zuweilen eine Nachhilfestunde in Läuttechnik nötig hätten – aber schön der Reihe nach…

Geläut und Stundenschlag im Konflikt

Das Läuten der Glocken an besonderen Fest- und Feiertagen gehört für die Mesmerinnen und Mesmer der Thurgauer Dorf- und Stadtkirchen zum Alltag. Zum Nationalfeiertag am 1. August wird von den Kirchtürmen um 20 Uhr während einer Viertelstunde mit Vollgeläut geläutet. Markus Schaltegger weiss als Präsident des Thurgauer Mesmerverbandes, wovon er spricht: «Das Zeitfenster für das Glockenläuten kann nicht beliebig gewählt werden, weil das Schlagen der Glocken (Stundenschlag) und das Läuten der Glocken sich aus technischen Gründen schwer oder gar nicht vertragen.»

Das führt bei den zeitlichen Wünschen zum Glockenläuten zu Einschränkungen. Die Gottesdienstzeiten – Gottesdienste werden in der Regel mit einem Vollgeläute von einer Viertelstunde Dauer eingeläutet – können deshalb nur jeweils auf den Zeitpunkt einer Viertelstunde festgelegt werden. Soll ein Gottesdienst «10-vor-10-Gottesdienst» heissen und um 9.50 Uhr beginnen, kann sich für das Einläuten ein «technischer Konflikt» mit dem Dreiviertel-Stunden-Schlag um 9.45 Uhr ergeben. Aus «technischer Rücksicht» auf den Viertelstundenschlag dauert auch das Vollgeläute am 1. August genau genommen nur 13 bis 14 Minuten, nämlich vom Ende des Stundenschlags um 20.00 Uhr bis kurz vor den Viertelstundenschlag um 20.15 Uhr.

S * Maria *

Anweisung nicht umsetzbar

Bundesfeier- und Jahreswechsel-Vollgeläut sind das Eine. Das Andere sind Wünsche zum Läuten der Glocken bei besonderen Ereignissen im Weltgeschehen, die immer wieder an die Landeskirche und an die Kirchgemeinden herangetragen werden. Zuweilen zeigen die nationalen Organe bei ihren Wünschen nach einem ausserordentlichen Glockenläuten nicht gerade viel Sachverstand für die technischen Finessen des Glockenläutens.

So hat es der Thurgauer Mesmerverband wahrgenommen, als die Schweizer Kirchen-Dachorganisationen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 9. März 2022 zu einem dreiminütigen nationalen Glockengeläut von 10.00 bis 10.03 Uhr aufriefen. Ziel war es, innezuhalten und an die vom Krieg und von menschlichem Leid betroffenen Menschen in der Ukraine zu denken. Die Aktuarin des Thurgauer Mesmerverbands sah sich veranlasst, einen praktikableren Vorschlag zu machen und wandte sich an den Thurgauer Kirchenrat:

«Gerne machen wir an der Aktion Nationales Glockengeläut am Mittwoch, 9. März 2022, mit. Gerne will ich Ihnen einmal schildern, wie eine solche Aktion aus der Sicht des Mesmers aussieht. Ich weiss nicht, ob Sie Kenntnisse haben, was Glocken alles zu bewältigen haben, aber das Einstellen von drei Minuten ist nicht sinnvoll. Die Glocken kann man nie zur vollen Zeit starten. 10.00 Uhr: Dann schlägt jede Uhr vier Mal die Viertelstunde und dann setzt der Stundenschlag ein. Dies dauert fast eine Minute beim 10 Uhr-Schlag. Also kann ein Geläut erst um 10.01 Uhr starten. Wir haben vier Glocken und die Grösste braucht fast 45 Sekunden bis sie anläuft, ebenso lange hat sie beim Ausklingen. Bei Ihren vorgeschlagenen drei Minuten würde dies bedeuten, dass die Glocke knappe 90 Sekunden läutet und dann schon wieder abstellt. Vom Mesmerverband Thurgau haben wir beschlossen, dass wir das Geläute für 9 Minuten starten werden. Ich bitte Sie, an alle Kirchgemeinden erneut zu schreiben, dass die Glocken 9 Minuten erklingen sollen. Nur so sehen wir das als eine sinnvolle Aktion, denn die Glocken bewegen die Herzen, und 9 Minuten lang innezuhalten, tut allen sehr gut.»

Der Kirchenrat hat seine 3-Minuten-Anweisung aus Rücksicht auf die nationale Weisung vor dem 9. März 2022 nicht mehr korrigiert. Er hat aber den glockentechnischen «gesunden Menschenverstand» aus dem Thurgau bei der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz deponiert und angeregt, dass die Zeitdauer des Glockenläutens für den 24. Februar 2023 – dem 1. Jahrestag des Krieges in der Ukraine – vor der nationalen Schweigeminute um 9.00 Uhr – auf fünf Minuten (8.55 bis 9.00 Uhr) angesetzt wurde.

Wagenhausens «alte Dame»

Und nun wieder zurück zur «alten Dame» in der Propstei in Wagenhausen. Das heutige Geläute der Propstei Wagenhausen besteht aus drei Glocken. Es wurde am 30. Januar 1955 eingeweiht. Die mittlere und älteste Glocke ist die Marienglocke von 1291 mit dem Schlagton es’’ und mit einer Öffnung von 72 Zentimetern. Sie verfügt über einen Henkel in Doppelkreuzstellung, verziert mit bärtigen Fratzengesichtern. Am Glockenhals ist in gotischen Grossbuchstaben zu lesen – und zwar zur Hauptsache von rechts nach links, also rückwärts: «+ O * REX * GL(0)RIE * VENI * CVM * PACE * + * A * NNO * DN * I M * CC * LXXXX * I * »; dann in moderner Leserichtung: «S * MARIA *».

Die grösste Glocke des Geläuts ist die Beatrixglocke mit dem Schlagton b’, einer Öffnung von 95 Zentimetern und einem Henkel in Doppelkreuzstellung. Die 1514 in Konstanz gegossene Glocke hing ursprünglich im Kirchturm von Märstetten und kam 1953 nach Wagenhausen. Die beiden historischen Glocken wurden 1955 mit der 1954 von der Glockengiesserei Rüetschi in Aarau gegossenen dritten Glocke mit dem Schlagton g’’ ergänzt und bilden seither das Geläut der Propsteikirche in Wagenhausen.

Seit 1891

Der Schweizer Nationalfeiertag wurde erstmals am 1. August 1891 gefeiert und wird seit 1899 in der gesamten Schweiz jährlich wiederholt. Der 1. August bezieht sich nicht auf das Datum des Rütlischwurs. Der Geschichtsschreiber Aegidius Tschudi setzte in seiner Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen Schweizer Chronik das Datum des Rütlischwures auf den «Mittwoch vor Martini» 1307 fest, also auf den 8. November 1307. Die Bundesfeier nimmt Bezug auf den Bundesbrief von 1291, der auf Anfang August 1291 datiert ist.

 

 

Auslegung: «GEGRÜSST SEIST DU, MARIA, ...»

Zum Geläut der Propstei Wagenhausen gehörten ursprünglich zwei Marienglocken. Neben der Glocke von 1291 steht auf dem Dachboden eine zweite – 1955 ausser Dienst gestellte – Marienglocke aus dem Jahr 1512. Sie trägt die Inschrift «ave maria gratia plena dominus tecum». Seit dem 14. Jahrhundert gab es bestimmte Glocken-Inschriften, die recht beliebt, und damit weit verbreitet waren. Eine dieser Inschriften ist der sogenannte «Englische Gruss», der sich auf das 1. Kapitel des Lukas- Evangeliums bezieht. Dort heisst es ab Vers 28: «Gegrüsset seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir.» Aus diesen Grussworten des Erzengels Gabriel, in denen Maria die Geburt ihres Sohnes angekündigt wird, entwickelte sich im Lauf der Zeit das Angelus-Gebet, wie es heute in der katholischen Kirche verwendet wird.

 

Unsere Empfehlungen

Handgeläut als Willkomm für die Täuflinge

Handgeläut als Willkomm für die Täuflinge

Zuoberst im Turm der evangelischen Kirche in Thundorf-Kirchberg hängt eine kleine, besondere Glocke. Die Taufglocke im silberhellen c’’’, nur 45 Kilogramm schwer, begrüsst die Täuflinge und wird heute noch von Hand geläutet.
Ein Sammler von 150 Glocken

Ein Sammler von 150 Glocken

Glocken hängen im Thurgau nicht nur in Kirchtürmen. Glocken kann man auch sammeln, was Heinz Auer aus Bichelsee fast sein Leben lang getan hat.
Als die grossen Glocken Einzug hielten

Als die grossen Glocken Einzug hielten

Im nächsten Jahr wird das grösste Geläut einer evangelischen Kirche im Kanton Thurgau 100 Jahre alt. Im Jahr 1924 wurden sechs der heute sieben Glocken in einer Prozession zur Bergli-Kirche in Arbon gebracht und aufgezogen.
«O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort»

«O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort»

Eine passendere Inschrift als der Vers aus Jeremia 22,29 könnte die grösste Glocke der evangelischen Kirche in Weinfelden kaum zieren. Seit 1903 ruft die Glocke ins Land hinaus: zu kirchlichen und weltlichen Anlässen.