News aus dem Thurgau

Sexuelle Gewalt am Krankenbett

von Karin Kaspers Elekes
min
17.02.2025
Tatort Bibel: Eine Spur zu einem sexuellen Gewaltverbrechen führt in die Königsfamilie zur Zeit Davids. Direkt an ein vermeintliches Krankenlager. Das Opfer bleibt – wie so viele vor und nach ihm – einsam zurück. Wo aber ist Gott?

Vor 3000 Jahren. Die politische Erfolgsgeschichte König Davids nimmt mit Gottes Verheissung ihren erfolgreichen Lauf: «...dein Thron soll ewiglich bestehen.» (2. Sam 7, 16b.) Privat aber: Schuld und Verbrechen. Gewalt in der Familie. Statt gewünschter schwesterlicher Krankenpflege – Vergewaltigung! Listig geplant mit Unterstützung des Cousins. Die Gegenwehr des Opfers mit Hinweis auf Gottes Willen und geltendes Recht – ohne Erfolg. Eine um ihr Leben betrogene junge Frau, die benutzt und hinausgeworfen wird aus der Gesellschaft – ohne Konsequenzen für den Täter.

Aktueller denn je

3000 Jahre her. Nur eine alte Geschichte? «Verstehen Sie keinen Spass, Schwester?» lautet der Titel einer Infobroschüre des SBK (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner) über sexuelle Gewalt am Krankenbett. Eine 2023 online durchgeführte Umfrage zeigte auf, dass 95,6 % der befragten Pflegekräfte (Durchschnittsalter 25,5 Jahre) in den vorangegangenen zwölf Monaten Opfer sexueller Belästigung oder sexueller Übergriffe durch Patienten geworden waren. Mehr als zwei Drittel der Befragten hatte körperliche sexuelle Übergriffe erlebt.

Vertrauen der Opfer wird missbraucht

Täter sind oft Personen, die das Vertrauen ihres Opfers geniessen. «Bei sexuellen Übergriffen kennen sich das Opfer und der Täter in den allermeisten Fällen.» Umso überraschender ist in der Regel die Gewaltanwendung für das Opfer. Da machen 3000 Jahre keinen Unterschied. Tamars Abwehr wird überaus deutlich erzählt. Ihr klares «NEIN!» aber hält den tatbereiten Amnon nicht auf. Er bemächtigt sich ihrer. Am Ziel angelangt, entledigt er sich der gedemütigten Tamar. Die meisten Täter, so die heutige Erkenntnis, leugnen ihre Verantwortung und übertragen die Schuld auf das Opfer.

 

+++ Neues von den Royals +++

Amnon, der älteste Königssohn, ist liebeskrank. Das Ziel seiner Begierde: Die schöne Tamar, die einzige Königstochter! Ein ihm befreundeter Cousin rät: Wenn Du dich krank stellst, darf Tamar für Dich sorgen. Gesagt. Getan. Der Plan steht. Und mit Vaters Zustimmung kommt Tamar. Doch Amnon will nicht ihr Gebäck, sondern SIE. Tamars Reaktion: NEIN! Das wäre Schande für mich und für Dich! Der Vater muss gefragt werden. Amnon ignoriert ihr Nein und vergewaltigt sie.

Ans Ziel gekommen, hat er genug von Tamar. Sie wird vor die Tür gesetzt. Ihre Verteidigung ist Amnon egal. Gewalterfahrung. Demütigung. Sie steht draussen. Im Kleid ihrer vergangenen Jugend. In ihrer Trauer zerreisst sie es und wirft Asche auf ihr Haar. Sie schreit ihren Schmerz heraus. Absalom sieht sie und hat eine böse Ahnung: Amnon...?! «Schwester, bleibe ruhig! Es bleibt ja in der Familie...» Tamars Zukunft: Einsamkeit. Amnon hat ihr Leben zerstört. Als der Vater, König David, davon erfährt, reagiert er zornig. Zur Rechenschaft zieht er den Täter, seinen geliebten Erstgeborenen, jedoch nicht…

Bibeltext zum Nachlesen (2. Samuel 13).

 

Sexueller Gewalt vorbeugen

Um sexuellen Übergriffen jeder Art zuvorzukommen, wird heute auf Prävention gesetzt, so auch im «Vertrauensraum Kirche». Die Thurgauer Landeskirche hat mit einem Schutzkonzept und der Installation einer Anlaufstelle «Grenzverletzungen» auf die Problematik reagiert. Ziel ist unter anderem die Sensibilisierung für den «Umgang mit Nähe und Distanz» in verpflichtenden Weiterbildungen für Mitarbeitende, aber auch die Unterstützung in etwaigen Krisensituationen.

Mit den Folgen zu kämpfen

Nach einer Vergewaltigung verlieren die meisten Opfer die grundlegenden Gefühle von Sicherheit und Kontrolle über das eigene Leben. Das war damals und ist heute so. «Die Hälfte der Vergewaltigungsopfer spricht mit niemandem über das Erlebte», so der Opferschutz «Weisser Ring» zum Thema «Sexuelle Gewalt». Die Tamar der alten biblischen Erzählung überfällt Trauer. Sie zerreisst ihr Jugendkleid und streut Asche auf ihr Haar. Die junge Frau erscheint wie verbrannt! Ihr Schrei zeigt ihre Verzweiflung, ihr Ausgeliefertsein und ihre Ohnmacht.

Verschweigen und vertuschen

Tamars Bruder Absalom sieht und hört seine Schwester – und beschwichtigt. Alles bliebe ja in der Familie. Nur kein Aufsehen – welche Peinlichkeit…! Tamar kann bei ihm bleiben. Einsam, am Leben und doch für die Gesellschaft wie gestorben. Der königliche Vater, selbst schuldbefangen, ist zornig. Und schweigt! Keine Konsequenzen für den Täter.

Dies kann der hohen Dunkelziffer von Vergewaltigungen in heutiger Zeit entsprechend gesehen werden, die niemals zur Anzeige kommen. Absalom lässt zwei Jahre später Amnon ermorden. Der «Paragraph» der Blutschande (3. Mose 20,17) gab ihm das Recht. Dass er damit zugleich einen Thronanwärter und Konkurrenten aus dem Weg schafft, darf jedoch nicht vergessen werden...

Nein heisst nein!

Und dann ist da noch der unausgesprochene Vorwurf an Tamar, ihr «unwiderstehlich Schönsein», der sich durch die Auslegungstradition bis über die Reformatoren hinaus zieht: subtile Schuldzuschreibung an das Opfer. Leider ist auch dies nicht nur ein Thema von gestern. Entgegen der patriachalen Gesellschaft, in der eine Frau immer in Rechtsabhängigkeit zu einem Mann stand, ist heute eine Frau Rechtssubjekt und – in der Schweiz – seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (!) rechtlich den Männern gleichgestellt. Das Staatsrecht steht jedem sexuellen Machtmissbrauch entgegen. Am 1. Juli 2024 ist ein neues Sexualstrafrecht in Kraft getreten, in dem die sogenannte «Ablehnungslösung» umgesetzt wird: «NEIN-heisst-NEIN!».

 

«Lernort» Tatort

Wo ist hier Gott? Allein das Opfer verleiht ihm Stimme: «Das tut man nicht in Israel!» – so Tamars Hinweis auf Gottes Gebot und Gesetz. Eine brennende Frage von Gewaltopfern: Gott, wo bist Du? Die rabbinische Shekina-Theologie versteht Gott als Gott, der sich ins Leiden begibt. Der christliche Theologe Dietrich Bonhoeffer sagte 1944: «Nur der leidende Gott – Christus kraft seines Leidens – kann helfen.» Jürgen Moltmann, ebenfalls Theologe, spricht später vom «mitleidenden Gott». Gott – im Leid bei den Opfern. Die Tatverantwortung aber bleibt beim Täter!

 

 

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