Robert Walser im «Schoss» der Psychiatrie
Randständig war Robert Walser nicht. Nach bemerkenswert vielen Wohnungs-, bzw. Zimmerwechseln in Bern und auffälligem Verhalten aufgrund einer schweren psychischen Krise, begibt sich Robert Walser in die Obhut einer Anstalt in Herisau in seinem Heimtakanton Appenzell Ausserrhoden.
Lisa Walser begleitet ihren Bruder Robert am 25. Januar 1929 in die Heilanstalt Waldau bei Bern. Auf dem Weg dorthin fragt Robert Walser seine Schwester: «Tun wir auch das Richtige?» Sie antwortet nicht, das nimmt er für ein «Ja» und lässt sich einweisen. Bis im Juni 1933 ist Walser Patient der Waldau. Er schreibt dort noch Texte, die auch gedruckt werden. Differenzen mit dem neuen Direktor, angestrebte Reformen, denen Walser sich nicht fügen mag, und die Sparsamkeit seiner Schwester, die seine Finanzen verwaltet, führen 1933 zur Verlegung Robert Walsers in die Anstalt seines Bürgerkantons. Walser ist zwar geboren in Biel, aber er hat Vorfahren in Teufen und Grub, geniesst also Bürgerrecht in Appenzell-Ausserrhoden. In der Waldau ist er als Ausserkantonaler ein teurer, in der «Heil- und Pflegeanstalt Herisau» als Innerkantonaler ein vergleichsweise günstiger Patient. Lisa stimmt der Überführung zu. Robert Walser wird gegen seinen Willen und gewaltsam nach Herisau verbracht. Dort gilt er als mürrischer, rauchender, spazierengehender und auf Zettel schreibender, ungeselliger, aber «ruhiger» Patient.
Den eigenen Tod beschrieben
Ab 1936 besucht ihn regelmässig Carl Seelig, Zürcher Journalist, Förderer und Mäzen unzähliger deutscher, jüdischer oder homosexueller Künstler und politisch Verfolgter. Seelig und Walser unternehmen lange Spaziergänge miteinander, wobei der 15 Jahre ältere Walser viel schneller läuft und Seelig meist weit voraus ist. 43 Spaziergänge beschreibt Carl Seelig in seinem Buch «Wanderungen mit Robert Walser». Es entsteht das Bild eines sehr belesenen und politisch informierten Dichters. Eindrücklich auch die Beschreibung der gemeinsamen Mahlzeiten in Gasthäusern, Bäckereien, Bierhallen und Bahnhofsrestaurants. Walser scheint ein grosser Esser und keinem Getränk abgeneigt gewesen zu sein. Den letzten Spaziergang am 25. Dezember 1956 unternimmt Robert Walser allein. Er stirbt im Schnee. In seinem Roman «Geschwister Tanner» - der 28-Jährige schrieb den Roman 1906 innerhalb von sechs Wochen - lässt Walser seine Romanfigur Simon Tanner den Dichter Sebastian tot im Schnee auffinden. Es liest sich, als ob Walser da den eigenen Tod im Schnee 50 Jahre vor seinem Tod beschrieben hätte. (1)
Verschont von damals üblichen Methoden der Psychiatrie
Obwohl unfreiwillig eingetreten, fand Walser in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau doch Ruhe, Schutz, Sicherheit und Struktur. Von Alltagssorgen war er entlastet. Als Carl Seelig ihm anbot, für ein Leben ausserhalb der Anstalt aufzukommen, lehnte Walser ab. Er war wohl eher «im Schoss als in den Fängen» der Psychiatrie gelandet. (2)
Der Klinikdirektor Hinrichsen in Herisau, selbst Dichter, verhielt sich Walser gegenüber herablassend, aber er liess ihn auch in Ruhe. Er behandelte ihn nicht mit den ringsum in den Psychiatrien neuerdings angewandten Methoden wie Insulinkuren, Lobotomie oder Elektroschock. (3)
Heutzutage wäre es Robert Walser wohl kaum möglich, 23.5 Jahre auf der Station einer psychiatrischen Klinik zu leben. Eher würde man den Sozialdienst bitten, einen Platz in einem betreuten Wohnheim für ihn zu finden.
Ob Robert Walser das gefiele, ist offen.
Quellen:
(1) Robert Walser, Geschwister Tanner, Roman, 1907, S. 129f.
(2) Marcel Zünd, In der psychiatrischen Klinik Herisau, IN: Robert Walser, Herisauer Jahre 1933-1956, hrsg. Museum Herisau, Appenzeller Verlag, 2. Auflage, 2003
(3) Margit Gigerl, Weshalb Robert Walser nicht geheilt wurde. IN: ebda.
Robert Walser im «Schoss» der Psychiatrie