Religiöse Grundmuster verändern, aber beibehalten
Im 19. Jahrhundert begann der Staat, mehr und mehr gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen, die zuvor die beiden Kirchen innehatten. Welche Aufgaben waren dies, Professor Ries?
Zunächst wurde die Schule säkular (weltlich, Anm. d. Red.), es folgten das Zivilstandswesen und die Sozialfürsorge. Man darf allerdings nicht das heutige Verständnis vom Staat auf diese Zeit zurückprojizieren. Im Spätmittelalter war der «Staat» – oder besser dieses vorstaatliche Gebilde – lediglich eine Wehrorganisation. Er baute keine Strassen, sorgte sich nicht um die Gesundheit der Bürger. Er betrieb nur Landesverteidigung bzw. -aggression. Der Staat im umfassenden Sinne entstand erst im 19. Jahrhundert. Er vereinte alle Ordnungs- und Regelungskompetenzen in einer Hand. Innerhalb des gleichen Territoriums galten gleiches Recht, gleicher Vollzug, gleiche Verwaltung, gleiche Währung, anders als im Lehenssystem, wo es einen Flickenteppich an Regelungen gab, wie zum Beispiel im Thurgau. Dieser moderne Staat nahm dann Aufgaben wahr, die zuvor von den Kirchen wahrgenommen wurden. Damit veränderte sich auch der Zugang zu diesen Aufgaben wie zum Beispiel im Armenwesen. Heute hat der in Armut gefallene Mensch einen Rechtsanspruch gegenüber der Gemeinschaft, dass er von ihr am Leben erhalten wird. Diesen kann er sogar einklagen. In der Vormoderne hingegen, als diese Aufgabe kirchliche Einrichtungen übernommen haben, wurden Zuwendungen an Arme als ein Akt der Gnaden verstanden, ohne irgendeinen Rechtsanspruch.
Von wem ging diese Entwicklung aus? Welches Interesse stand dahinter?
Sie ging vom Staat aus, weil er einen anderen Zugang zu den Aufgaben hatte. Paradigmatisch sieht man das im Bereich der Bildung, den er als erstes nach der Französischen Revolution umgestaltete. Hinter dieser Initiative stand die aufgeklärte Idee, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist und dafür in die Lage versetzt werden muss, indem er Bildung erfährt. Der Staat stellte sich diesem Anspruch und führte eine obligatorische und unentgeltliche, individuelle Schulbildung für jedes Kind ein. Dies ist «die» grosse sozialgeschichtliche Errungenschaft nach der Revolution. Hier stiess der Staat in eine Domäne vor, die zuvor von der Kirche beziehungsweise den Städten besetzt war. In der Vormoderne gab es auch keinen Rechtsanspruch auf Bildung.
Wie standen und verhielten sich die Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche im Thurgau dazu?
Die evangelische Seite war gegenüber dieser Entwicklung aufgeschossener. Die treibenden Kräfte waren auch stärker verwurzelt in der evangelischen Tradition. Der evangelischen Kirche kam zugute, dass dieses moderne Staatsverständnis schon stärker in der reformatorischen Tradition grundgelegt war. Dies hat es ihr leichter gemacht, sich auf die Veränderungen einzulassen. Bei den Katholiken provozierte diese Offenheit zusätzliche Abwehrreflexe. Man erblickte hinter den Entwicklungen ein evangelisches Staatsverständnis und war schon deswegen ablehnend eingestellt. Im Mittelalter waren die Klöster sehr stark Träger von Bildung, Schule und Kultur gewesen, was mit der reformatorischen Tradition endete. Schon im 16 Jahrhundert fand eine Art Säkularisierungsschub statt, indem die Städte die kirchlichen Schulen und Armenkassen übernahmen. In Zürich waren sie zum Beispiel schon staatlich, als der moderne Staat entstand.
Wie wurden diese Entwicklungen von der Kirchenleitung her wahrgenommen?
Zunächst positiv. Man liess ja die Idee der konfessionellen Parität in diesem neuen Gemeinwesen «Thurgau» wieder neu aufleben. Behörden wurden paritätisch besetzt, am Anfang sogar der Regierungsrat und der Kantonsrat, dann auch die Schulaufsicht. Die Verfassungsrevision von 1869 nahm allerdings wieder Abstand davon, nicht-kirchliche Einrichtungen dieser Regel zu unterwerfen. Das hat vor allem auf katholischer Seite ein gewisses Misstrauen hervorgerufen. Belastend wirkte sich zudem der Kontext des Kulturkampfes aus.
Wie hat der Kulturkampf in diese Entwicklungen hineingespielt?
Mit der Bestrebung des modernen Staates, die Verantwortung für bestimmte gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen, war auch das Ziel der Vereinheitlichung verbunden. Wie man die Währung vereinheitlichte, so wollte man auch mit der Religion verfahren. Religion und Sittlichkeit waren wichtige Bürgertugenden, die vom Staat gefördert, aber auch kontrolliert wurden. Es gab die Idealvorstellung, dass die Religionsdiener, die Pfarrer und der Bischof, auch staatliche Beamte sein könnten. Die Gegner dieser Vorstellung forderten eine freie Kirche. Die evangelische Seite konnte das besser akzeptieren, weil es ihr gegenüber schon immer eine staatliche Aufsicht gegeben hat. Es wuchs ein Gegensatz. In verschiedenen Kantonen wurden sogenannte Kursprüfungen eingeführt: Ein Pfarrer durfte sein Amt nur dann antreten, wenn er staatlich geprüft worden ist. Der Staat wollte sicherstellen, dass der Kandidat kein vorrevolutionär gesinnter Reaktionär ist. Solche Kontrollbestrebungen wurden von den erstarkenden Katholiken, die von Rom her Rückendeckung erfuhren, immer weniger toleriert. Dies führt dann nach dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869-70) zum Bruch. In den Dreißiger Jahren forderten mehrere Kantone die Errichtung einer schweizerischen Kirchenprovinz unter Leitung eines schweizerischen Erzbischofs. Über ihn wollten sie direkte Kontrolle ausüben und Rom umgehen. Die Katholiken wiesen diese Forderung empört zurück mit dem Hinweis, dass sie einer überstaatlichen Ordnung verpflichtet seien. Im Thurgau wurde dieser Prozess dadurch beschleunigt, dass die Katholiken in der Minderheit waren. 1848, als in Frankreich und Deutschland schon wieder Klöster gegründet wurden, wurden hier alle Klöster geschlossen, obwohl sie gut funktionierten und von ihnen keine Gefahr zur Aufruhr ausging. Solche Massnahmen förderten keine Offenheit gegenüber der neuen Ordnung.
Welche Verflechtungen zwischen Kirche und Staat blieben bestehen?
Das Programm der Säkularisierung sah vor, dass der Staat und nicht mehr die kirchliche Tradition das öffentliche Leben in all seinen Facetten bestimmt. In Frankreich hatte man mit diesem rigorosen Vorgehen schlechte Erfahrung gemacht. Die Einführung eines neuen Kalenders scheiterte zum Beispiel. Im Thurgau ging man moderater vor. Man säkularisierte Grundmuster, behielt sie aber bei, wie die kirchliche Feiertagsordnung oder die Eheschliessung. Dass die Ehe eine auf unbestimmte Zeit angelegte Lebensgemeinschaft einer Frau und eines Mannes ist und von den beiden nicht selber aufgelöst werden kann, ist ein Organisationsmuster aus der religiösen Tradition, das der Staat eins zu eins übernommen hat. Die zivile Trauung und die kirchliche Trauung sind vom Ritual her aufs engste miteinander verwandt. Die Kirchen blieben ausserdem öffentlich-rechtliche Anstalten. Sie werden privilegiert, aber auch öffentlich kontrolliert. Als im Thurgau zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit begonnen wurde, Paritätsverhältnisse (evangelische und katholische Kirchgemeinden nutzen gemeinsam eine Kirche, Anm. d. Red.) im grossen Stil aufzulösen, stand dafür eine kantonale Kommission bereit, die darüber wachte, dass die Auflösungen geordnet und ohne Streitigkeiten durchgeführt wurden.
Wie wirkte sich die Säkularisation auf das Verhältnis der beiden Konfessionen aus?
Die konfessionellen Gegensätze, die man heute noch wahrnimmt, lassen sich oft nicht in einer Linie auf die Zeit der Reformation zurückführen, sondern sind eigentlich im 19. Jahrhundert gewachsen (vgl. auch die These des Historikers Olaf Blaschke vom «zweiten konfessionellen Zeitalter»). Während man die Aufklärung als Zeit wachsender interkonfessioneller Toleranz in der Eidgenossenschaft beschreiben kann, ist im 19. Jahrhundert wieder ein unglaubliches, alle Ebenen umfassendes Aufbäumen und eine konfessionelle Profilierung im Sinne der Abgrenzung erlebbar. So veröffentlichte Papst Pius X. noch 1910 eine Enzyklika zur Erinnerung an die 1610 erfolgte Heiligsprechung von Karl Borromäus, in der er dessen Kampf gegen die Widersacher des wahren Glaubens pries, und damit die Reformierten verärgerte, die 1917 ihr Reformationsjubiläum feiern wollten. Im Thurgau zeigten sich diese Spannungen ebenso. Die Aushandlungs- und Streitprozesse waren in manchen Fällen geprägt von einem erschütternden Misstrauen und einer Aversion zwischen den Konfessionen. Das 20. Jahrhundert zeichnete sich dadurch aus, dass man wieder zu einer anderen Optik fand. Die eigentliche Errungenschaft in der Ökumene bestand weniger in dogmatischen Annäherungen auf offizieller Ebene als darin, dass man sich in den Dörfern unter den Konfessionen wieder zu trauen begann.
(Detlef Kissner, 21. April 2020)
Religiöse Grundmuster verändern, aber beibehalten