Nicht verurteilt
Ich frage mich: Warum ist sie eigentlich allein da? Wo ist der Mann, für den sie das alles riskiert hat? Hat er sie schmählich im Stich gelassen oder womöglich – wie Adam im Paradies – behauptet, sie habe ihn verführt, er sei eigentlich nur das Opfer ihrer Schamlosigkeit? Wir wissen es nicht. Wir sehen nur diese Frau, ganz allein ausgesetzt der öffentlichen Blossstellung und Beschämung. Sie wird nicht mit ihrem Namen vorgestellt, sondern als Ehebrecherin, als wäre dieser Fehltritt ihre Identität.
Beklemmend, demütigend
Es ist ein beklemmendes Szenario, in dem die Pharisäer und Schriftgelehrten nun ihre Anklage erheben und versuchen, Jesus in einen fachlichen Rechtsdisput zu ziehen: «Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?» (Johannes 8,4f) Die Frau wird noch zusätzlich gedemütigt dadurch, dass über sie hinweggeredet wird, ja, dass sie benutzt wird, um Jesus eine Falle zu stellen, wie es ganz offen heisst.
Aus Beschämung herausgeführt
Jesus schreibt mit dem Finger auf die Erde: Er schaut zu Boden, er weicht diesem Gespräch aus. Ich deute das als eine Form von Fremdschämen. Denn bei anderen Gelegenheiten diskutiert Jesus gern und heftig Fragen der Tora und legt sich auf Augenhöhe mit den Pharisäern an. Aber hier macht er nicht mit. Er entzieht sich der für die Frau mehr als peinlichen Diskussion. Jesus lässt sich nicht zum Komplizen ihrer Beschämung machen. Und damit repräsentiert er die Haltung seines Vaters im Himmel. Denn der ist ein Gott, der Menschen aus Beschämung herausführt.
+++ Auf frischer Tat ertappt! +++
Jerusalem. Die theologischen Gesetzeshüter haben eine Ehebrecherin in flagranti erwischt, sie aus dem Bett gezerrt und in die Mitte der Menge gezwungen, die sich im Tempel um den Rabbi Jesus gesammelt hat, um von ihm zu lernen. So steht sie nun da, unordentlich bekleidet, mit wirrem Haar und erschrockenen Augen, ausgesetzt den Blicken der Menge, die sie taxieren, verspotten, anklagen. Kein Zweifel: Für diese frommen Tempelbesucher ist sie nichts anderes als eine «Schlampe», die nun hoffentlich ihre gerechte Strafe bekommt. Alle Augen sind auf Jesus gerichtet, der nun entscheiden soll, was mit dieser Frau passieren soll.
Nach jüdischem Gesetz droht ihr die Steinigung, die Todesstrafe. Aber der Rabbi gibt keine Antwort, er sitzt am Boden und schreibt irgendetwas in den Sand, das man nicht erkennen kann. Er nimmt keine Notiz von den Anklägern und schaut auch die Frau nicht an. Kein Wort kommt über seine Lippen. Stundenlang sitzt er so da, und vor Redaktionsschluss war das Urteil immer noch nicht gefällt.
Zur «Besinnung» gebracht
Erst als die Pharisäer und Schriftgelehrten immer penetranter werden, reagiert Jesus. Und erst jetzt richtet er sich auf und blickt sie an: «Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.» Mit dieser Aufforderung lenkt Jesus die Aufmerksamkeit von der Frau weg hin auf deren Ankläger selbst. Nun haben sie nicht mehr über eine andere Person zu urteilen, sondern über sich selbst: Sind sie ohne Sünde? Mit dieser Frage bringt Jesus die Pharisäer und Schriftgelehrten im wahrsten Sinne des Wortes zur «Besinnung»: Einer nach dem anderen verlässt die Runde der selbstsicheren Ankläger.
Raum der Würde geschaffen Jesu
Selbstprüfungsauftrag führt sie zur Umkehr – aber auf heilsame Weise, weil sie dadurch von ihrem überhöhten Sockel heruntergeholt und zu einer demütigen Erkenntnis bewegt werden, die sie mit der Frau verbindet: die Erkenntnis ihres eigenen Sünderseins, ihrer eigenen Angewiesenheit auf Gnade und Erbarmen. Jesus mutet ihnen eine Schamerfahrung zu, an der sie wachsen und durch die sie menschlicher werden können in ihrem Urteil über andere. Dabei lässt er ihnen einen Raum der Würde.
Er stellt ihnen eine Frage, die sie selbst – jeder für sich – beantworten müssen. Er bringt ihnen Respekt und Zutrauen entgegen, was ihre theologische Ernsthaftigkeit angeht. Er setzt darauf, dass sie sich aufrichtig prüfen. In diesem Raum der Würde können sie in sich gehen, ihre Haltung ändern und ihre destruktiven Bestrafungswünsche aufgeben. Jesus bleibt am Ende allein mit der Frau zurück. Bis auch der letzte ihrer Ankläger gegangen ist, hat er offenbar wieder zu Boden geschaut – vielleicht, um den Pharisäern und Schriftgelehrten zu ersparen, sich beobachtet zu fühlen bei ihrem Umdenken.
Unter vier Augen
Nun richtet sich Jesus wieder auf, wie es heisst, und spricht die Frau auf Augenhöhe an. Er sucht das Gespräch unter vier Augen, um ihr ebenfalls den Raum der Würde zuzugestehen. Auch ihr stellt er eine Frage: «Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?» Es ist eine Frage, die die Frau leicht beantworten kann, obwohl die Antwort schwer wiegt: Niemand hat sie verdammt. Auch Jesus verurteilt sie nicht. Stattdessen ermutigt er sie, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen: «Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.»
«Lernort» Tatort
So wird der biblische Tatort der Ehebrecherin – kurz und knapp – auch heute zum «Lernort»: Jesus befreit die Ehebrecherin aus der Beschämung durch andere, aus der traumatischen Erfahrung, öffentlich blossgestellt zu werden. Durch ihn und seine Barmherzigkeit wird sie aus ihrer Passivität befreit und zu eigener Verantwortlichkeit für ihr weiteres Leben ermächtigt. Eine Geschichte, die deutlich macht: Jesus geht es darum, Menschen einen Weg zur Vergebung, zur Würde, zum Neuanfang und zum Leben zu öffnen.
Nicht verurteilt