Nachdenken, staunen, fragen
Aquarell auf Himmelblau. Unschwer lässt sich auf dem Einband bereits die Liebe der 91-jährigen Autorin zur Natur, zu Matten und Hängen erkennen. Die Ruhe in St. Antönien im bünderischen Prättigau schätzt sie ebenso wie die Atmosphäre der Schreibseminare in der Kartause Ittingen. Hier erfährt die Autorin Inspiration, die sie zu ihrer kreativen Arbeit befähigt: aus Staunen, Nachdenken und Freude. Anne-Marie Glatz war der christliche Glaube stets wegleitend durch ihr reiches Leben, weiss Peter Rottmeier aus Balterswil. Er hat die Herausforderung angenommen, die schriftlichen Puzzleteile einzuordnen und mit seinen passenden Holzschnitten und Bildern zu bereichern: «Eine wunderbare Arbeit.» Weil der Mann von Anne-Marie Glatz viele Jahre in Frauenfeld Kirchenpräsident gewesen sei, habe sie sich mitunter an seiner Aufgabe und der Entwicklung der Kirche interessiert und sich auch vertieft mit biblischen Texten auseinandergesetzt.
Mitten aus dem Leben
Wer sich auf «Tanzen auf dem Regenbogen» einlässt, begegnet in den Texten aus 35 Jahren Themen, die mitten aus dem Leben gegriffen sind – oft mit autobiographischem Bezug der Autorin. Sie befragt ihr Erleben aus einer Haltung der nachdenkend- kritischen Distanz, staunenden Demut und berührender Freude: Was ist wesentlich? Was erlebe ich als bedeutsam? Sei es beim Betrachten der Natur, sei es im Erleben von Älterwerden, Krankheit oder Trauer. Ihre eigene Suchbewegung wird dabei immer wieder für den Lesenden erfahrbar und nimmt ihn selbst mit in den Prozess des Nachdenkens, des Staunens und sich Freuens hinein.
Existenziell betroffen, verdichtet
Existenziell betroffen, beginnt Anne-Marie Glatz ihre schriftliche Auseinandersetzung mit dem «gepredigten und gelebten Evangelium ». Auf dem hier begonnenen Weg entstehen vielgestaltige Prosatexte und Gedanken, die sie in «verdichteter Sprache» zu Papier bringt: Texte, in die – auf der Suche nach dem «Mehr des Lebens» – auch die kritische Auseinandersetzung mit kirchlicher Auslegungspraxis biblischer Inhalte einfloss. So fragt Anne- Marie Glatz: «Sollte eine Reformation nicht ein immer wieder neues Suchen nach Gott, Suchen nach der Quelle des Lebens sein? Wann endlich werden wir eine Kirche sein, die liebt, die dem Andersdenkenden seine Art, Gott zu erleben, nicht abspricht und das Urteilen Gott überlässt?»
Lebenshaltung wird deutlich
Ob die Stille eine Farbe hat? Anne-Marie Glatz ermutigt die Lesenden, bis zur letzten Seite Fragestelllungen mitzudenken, die nicht alltäglich erscheinen mögen. Die Autorin «gibt sich nie mit raschen Antworten zufrieden», so Ruth Rechsteiner, Journalistin und Begleiterin der Autorin aus der Schreibwerkstatt in der Kartause, in ihrem Nachwort zum Sammelband. Auch daraus wird klar: Schreiben ist eine Form, dem Leben zu begegnen. Eine Lebenshaltung.
(kke/sal, 28. April 2020)
Nachdenken, staunen, fragen