News aus dem Thurgau

Müssen wir das Streiten neu lernen?

von Ernst Ritzi
min
09.12.2024
Es scheint so, dass die Menschen im Umgang mit Konflikten und anderen Meinungen dünnhäutiger geworden sind. Auch der Ton ist rauer geworden. Soziale Medien begünstigen die Verbreitung von Botschaften, die Menschen persönlich verletzen.

In der öffentlichen Diskussion ist davon die Rede, dass in unserer offenen und demokratischen Gesellschaft eine neue Streitkultur vonnöten sei.

Debattierfeld jenen mit der lautesten Stimme überlassen
ERF Medien Deutschland hat im Jahr 2020 eine Wertekampagne unter dem Titel «Zeit für eine neue Streitkultur» lanciert und dabei festgehalten: «In einer Gesellschaft, die sich immer stärker ausdifferenziert und durch Zuzug von Menschen anderer religiöser und kultureller Hintergründe immer facettenreicher wird, steigt auch die Notwendigkeit, sich mit anderen Sichtweisen und Überzeugungen auseinander zu setzen.» «Populistische Einstellungen» nähmen zu. Es mache den Anschein, dass das Debattierfeld jenen mit der lautesten Stimme überlassen werde: «Besonders in den Sozialen Medien verleitet die (scheinbare) Anonymität dazu, auch die letzten Schranken fallen zu lassen.»

«Mit Ausdauer das Verbindende suchen»
Die mit der evangelischen Kirche verbundene deutsche Politikerin Katrin Göring- Eckardt hat die nötige neue Streitkultur an einem Adventsempfang der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck so beschrieben: «Unsere protestantische Kirche darf den Widerspruch nicht nur mit Lippenbekenntnissen wertschätzen, sondern muss ihn aktiv kultivieren. Also buchstäblich: Eine Kultur entwickeln und pflegen, die dem Streit Raum und Rahmen gibt. Eine Streitkultur, die den anderen anders sein lässt und damit rechnet, dass dieser so irritierend Andere auch recht haben könnte. Eine Kultur, die das Verbindende nicht leugnet, sondern es mit Ausdauer sucht.»

Die Redaktion des Kirchenboten fragte eine Influencerin, die in den Sozialen Medien unterwegs ist, und einen Konflikt-Mediator, wie sie die aktuelle Konfliktfähigkeit unserer Gesellschaft erleben und was für eine bessere Streitkultur getan werden kann.

 

Das meinen Stefan Wohnlich und Michèle Krüsi:

 

Dem Gegenüber zuerst zuhören


Stefan Wohnlich, Mediator und Konflikt- und Organisationsberater, Eschlikon

«Interessante Geschichten in der Literatur, in der Bibel und im eigenen Leben basieren fast immer auf Konflikten. Jeder hat sie, niemand will sie. Deshalb wollen wir sie oft vermeiden oder schnell beseitigen. Haben wir das Streiten verlernt? Unsere Gesellschaft ist zwar geprägt von hitzigen Debatten, bei denen die eigenen Positionen beharrlich verteidigt werden. Streit – früher ein Mittel des Austauschs und der Weiterentwicklung – wird zum Kampf, bei dem es Sieger und Verlierer gibt. Aus Gesprächs-Partnern werden Gesprächs-Gegner.

Wir müssen neu lernen, uns auf den Kern eines Konflikts und die Interessen dahinter zu konzentrieren, statt persönliche Angriffe in den Vordergrund zu stellen. Dazu muss man sich zuhören. Ein Beispiel: A und B streiten um einen Kürbis. Die Lösung ist naheliegend: Der Kürbis wird halbiert. Allerdings sind jetzt beide unglücklich. Weshalb? Hätte man die Interessen abgeklärt, hätte man erfahren, dass A den Kürbis aushöhlen und mit einem Kerzenlicht in den Garten stellen wollte, während dem B das Fruchtfleisch brauchte für eine Suppe. Hätte man sich zugehört und die Interessen geklärt, hätte es viel bessere Lösungen für den Konflikt gegeben.

Eine gute Streitkultur basiert auf dem Dialog und auf der Einsicht, dass ein Gegenüber keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung sein kann. Ja, wir müssen das Streiten neu lernen – um miteinander weiterzukommen.»

Raum lassen für andere Sichtweise


Michèle Krüsi, Influencerin Rothenburg (aufgewachsen in Braunau)

«Eine Diskussion basiert für mich immer auf Respekt. Das bedeutet, dass man einen anständigen Tonfall wählt, nicht beleidigend wird und Vorwürfe zu vermeiden versucht. Es hilft, wenn man festhält, dass es sich um die eigene, persönliche Meinung handelt und nicht um allgemeine Tatsachen. So lädt man sein Gegenüber ein, seine Sicht der Dinge einzubringen und es kann ein echtes Gespräch auf Augenhöhe stattfinden. Wichtig ist, dass ich immer auch die Möglichkeit offenhalte, dass meine Gesprächspartnerin oder mein Gesprächspartner die Dinge anders sieht als ich.

Wenn sich eine Diskussion oder ein Gespräch zu einem Streit zu entwickeln droht, lohnt es sich manchmal darüber zu schlafen, damit das Gespräch am nächsten Tag mit kühlem Kopf und geordneten Gedanken fortgesetzt werden kann.

Internet und Social Media erleichtern es, seine Meinungen ungefragt und ungefiltert zu teilen. Man steht nicht 'live' einem Menschen gegenüber, bei dem man sehen könnte, dass man seine Gefühle verletzt. Man kann sich hinter einem Bildschirm, vielleicht sogar hinter einem anonymen Account verstecken. Ich glaube, dass Menschen, die im Internet 'haten', sich oft gar nicht bewusst sind, dass ihre Worte für betroffenen Personen sehr schmerzhaft sein können. Im Nachhinein werden die Hassbotschaften oft verharmlost. Da fällt es schwer zu glauben, dass es dem Absender oder Absenderin der verletzenden oder beleidigenden Botschaft wirklich leidtut.»

 

 

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