Lieber provokativ als bequem
«Der Taumelkäfer ist etwa sieben Millimeter lang, schwarzbraun. Das Besondere an ihm: Er hat vier Augen.» Diese Passage stammt nicht etwa aus der Fernsehsendung «Netz Natur». Sie ist Teil einer Predigt von Judith Engeler, für die sie vor kurzem ausgezeichnet wurde (siehe Kasten). «Meine Predigten sollen möglichst nahe am Leben sein», betont Engeler. Das gelinge ihr mal besser, mal weniger gut. Fast immer aber seien ihre Predigten eine Zangengeburt.
Menschen sollen weiterdenken
Nach ihrem Vikariat in der Evangelischen Kirchgemeinde Romanshorn wurde Judith Engeler im Sommer 2016 zur Pfarrerin ordiniert. Derzeit ist sie an der Universität Zürich mit ihrer Doktorarbeit beschäftigt. Das Schreiben ist sie also gewohnt. Zu einer guten Predigt gehöre allerdings mehr als gute Formulierungen, sagt Engeler. «Ich will die Leute zum Nach- und Weiterdenken anregen. Das Schlimmste wäre, wenn die Menschen meine Predigt zwar ganz nett finden, sie nach dem Verlassen der Kirche aber wieder vergessen haben.» Die Bibel wolle ja gerade, dass man bequeme Denkmuster verlasse. «Lieber provoziere ich Widerspruch als gar keine Emotionen mit einer Predigt», sagt Engeler
Sport und Serien lenken ab
Damit sie nicht selber den bequemen Denkmustern verfällt, greift die 27-Jährige beim Verfassen einer Predigt gerne auf Bibelstellen zurück, die ihr im ersten Moment kompliziert erscheinen. Das verhindere, dass sie ständig ihre «Lieblingstexte» auswähle und immer das Gleiche predige. Hat sie einen Text gefunden, sucht Engeler nach möglichst lebensnahen Assoziationen. Sie liest Bibelkommentare, recherchiert einzelne Wörter im Urtext, diskutiert mit Pfarrkollegen, verfasst erste Sätze und Abschnitte. Meistens falle ein grosser Teil des Geschriebenen am Schluss wieder raus, weil sich die Predigt in eine ganz andere Richtung entwickelt als zunächst gedacht. «Bis die definitive Predigt steht, können gut mal zwei, drei Tage draufgehen», sagt Engeler. Eine gute Predigt brauche eben Entwicklungszeit. Es komme auch vor, dass sie beim Schreiben gar nicht mehr weiterkomme: «Dann lenke ich mich ab, zum Beispiel mit Sport oder Serien gucken.»
Blick nach oben und unten
Was hat es nun eigentlich mit dem Taumelkäfer auf sich? Judith Engeler benutzte ihn als Metapher: «Mit seinen vier Augen überblickt er gleichzeitig Himmel und Erde. Auch wir Menschen leben in zwei verschiedenen Welten und haben Mühe, beide im Blick zu halten. Erst wenn das gelingt, kann man die Tiefe und Vielfalt des Lebens wirklich wahrnehmen. Eindimensionales Denken schränkt ein, ja ist gefährlich! Denken Sie an den Taumelkäfer: Er verhungert, wenn er die Nahrung unter sich nicht sieht oder wird gefressen, wenn er die hungrigen Vögel am Himmel nicht erkennt.»
(Cyrill Rüegger, 21.11.2017)
Lieber provokativ als bequem