Leben im Sterben
«Von den Sterbenden können wir lernen», sagt Roger Ruffieux, Hausarzt in Matzingen. Er ist überzeugt: «Unsere Endlichkeit wird uns wieder bewusst», und man lerne loszulassen: «Dies ist wohl die letzte mögliche Entscheidung.» Im Buch «Den Weg zu Ende gehen» schildert er entsprechende Situationen, die traurig und tröstend zugleich sind.
Schmerzen gelindert
Ruffieux berichtet beispielsweise von letzten Monaten eines unheilbar erkrankten Zungenkrebs- Patienten, der bis fast zum Schluss grösstenteils selbstständig bleibt: Dank beruhigender und schmerzlindernder Medikamente sei der Sterbeprozess friedlich verlaufen. Beeindruckt zeigt er sich auch vom jungen Lehrer, der innere Spannungen und Ängste angesichts des nahenden Todes äusserte und über «Horrornächte» mit Atemnot und Albträumen sprach. Obwohl die Palliativstation des Spitals ihn aufgenommen hätte, habe er sich entschieden, zu Hause zu bleiben: «Wir konnten ihm diesen letzten Wunsch des begleiteten Sterbens in seinem eigenen neuen Zuhause ermöglichen. » Eine 86-jährige, vitale und eigenwillige Patientin mit mehrfachen Tumoren habe ihm klar den Tarif durchgegeben: «Sie wüssed, dass ich denn bestimme, was söll ga!» Nach Wochen intensiver Pflege, Atemnot, anderen Beschwerden, aber kaum Schmerzen habe sie mitgeteilt, dass sie ihr Leben mit der Sterbehilfeorganisation «Exit» beenden wolle. Der Sohn habe den Entscheid unterstützt, eine intensivere palliative Behandlung mit Morphium sei abgelehnt worden, erinnert sich Ruffieux. Trotzdem seien dann die «Exit»-Vorbereitungen ausgesetzt worden, und die Patientin sei nach wenigen Tagen zu Hause gestorben. Solche Erfahrungen hätten ihn gelehrt, dass «das letzte Wegstück, wenn auch steinig und herausfordernd, seinen wichtigen Wert im Abschluss des persönlichen Lebens» habe.
«Man kann mich buchen!»
Deshalb äussert auch Stefan Wohnlich einen in diesem Zusammenhang eher aussergewöhnlichen Satz, der aber hilft, Hemmschwellen abzubauen, wenn Probleme rund um das Lebensende quälen: «Man kann mich buchen!» Wohnlich ist nämlich Theologe und Gerontologe und genau in solchen Fällen als Beauftragter für Palliative Care bei der Evangelischen Landeskirche Thurgau tätig. Er ist überzeugt: «Palliative Care ist Hilfe zum Leben – bis zuletzt. Dabei stehen der Mensch, seine Angehörigen, sein Leben und seine Lebensqualität im Zentrum.» Karin Nestor aus Dussnang leitet am Kantonsspital St. Gallen die onkologische Palliativmedizin, ist Mitglied der nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin und spannt den Bogen noch etwas weiter: Nicht nur Kriegserfahrungen könnten posttraumatsiche Belastungsstörungen oder Depressionen hervorrufen. «Auch Menschen, die Zeuge einer Selbsttötung werden, können seelische Verletzungen erleiden, oft verbunden mit der Frage, ob sie diese hätten verhindern können.» Deshalb ist sie überzeugt: «Töten oder das Zulassen einer Tötung verletzt anders als Sterben mitzuerleben.»
(23. August 2019, Roman Salzmann)
Leben im Sterben