Landei braucht die Stadt
Die ersten 29 Jahre meines Lebens habe ich in einem wirklich kleinen Dorf in Ostwestfalen verbracht. In Oldinghausen leben, seit der grösste Bauer in die Schweinemast eingestiegen ist, mehr Schweine als Menschen. Ich habe mich in Oldinghausen immer wohl gefühlt. Wir kannten einander. Ich bin mit den Menschen in unserer Nachbarschaft aufgewachsen. Sie waren mir freundlich gesinnt und haben auch manche meiner Aussetzer in der Pubertät mitgetragen. Ich bin ihnen dafür sehr dankbar. Die Menschen dort wissen, was sie aneinander haben – oder eben auch nicht. Familienstreitigkeiten werden manchmal von Generation zu Generation weiter gegeben. Und wenn es die Eltern schon gut miteinander gehabt haben, dann schaffen das meistens auch die Kinder.
Wo meine Wurzeln sind
Die Strasse, in der mein Elternhaus steht, hat die Generation meiner Eltern besiedelt. Beim Hausbau haben sie sich gegenseitig geholfen. Viel Geld hatte niemand. Aber jeder konnte etwas. Das hat diese Generation zusammen geschweisst. Geburtstage werden miteinander gefeiert. Abdankungen miteinander durchlitten. Fast alle der ersten Siedler der Unteren Markstrasse sind inzwischen verstorben. Und viele ihrer Kinder sind weggezogen. So wie ich. Als ich in Waldstatt ordiniert worden bin, kam ein grosser Bus aus Oldinghausen mit den Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin. Sie haben Anteil genommen an meinem Lebensweg in der Fremde. Das hat mich sehr berührt. Ich weiss, wo meine Wurzeln sind. Und unser alter Bürgermeister hat mir an seinem letzten Arbeitstag ein altes Ortseingangsschild geschenkt. Eine grosse Ehre.
Inzwischen lebe ich seit 2001 in Bühler. Ich lebe gerne hier. Bühler ist flächenmässig kleiner als Oldinghausen. Trotzdem leben hier mehr Menschen. Und weniger Schweine. Dafür mehr Kühe. Vom Verhalten her sind sich die Ostwestfalen und die Appenzeller sehr ähnlich. Ich habe mich hier schnell wohl gefühlt.
Die Stadt ruft
Aber manchmal, manchmal muss ich raus aus dem Dorf. Dann ziehen mich grosse Städte an. Im Juli waren wir zwei Wochen in Glasgow mit Besuch in Edinburgh. Und ich denke schon an die nächste Berlinreise. Warum? Weil ich manchmal eine Reizüberflutung brauche. Wenn ich in Berlin durch die Friedrichstrasse schlendere, sehe ich in einer Stunde mehr Menschen als in Bühler in einem ganzen Jahr. Überall blinkt und leuchtet es. Eine irrsinnige Kreativität treibt überall Blüten. Tolle Ausstellungen und tolle Cafés. Manchmal habe ich den Eindruck, dass das Leben in der Stadt meinem Leben auf dem Land mindestens zehn Jahre voraus ist. Da werden Dinge angeboten, die ich mir vorher nicht vorstellen konnte. Auf solche Ideen würde ich hier gar nicht kommen. Und manchmal denke ich auch, dass die Menschen in der Stadt schneller alt werden. Immer dieser Stress. Immer dieser Lärm. Immer diese vielen Menschen.
Nach einer Woche in einer Stadt habe ich genug. Dann will ich wieder nach Hause. Wieder zurück nach Bühler. Dann brauche ich Zeit, um das Neue zu verarbeiten. Einige der neuen Inputs nehme ich mit. Brüte sie aus, und überlege mir, wie und ob ich sie vielleicht in Bühler umsetzen kann. In bin gerne in einer grossen Stadt. Aber da leben? Nein Danke. Ich mag die Ruhe. Ich mag die Kuhglocken. Und ich mag es, dass ich die Menschen kenne, die mir auf dem Trottoir entgegen kommen.
Fokus Stadt und Land
Zwischen Alphorn und Yogamatte
Seit Jahren bewirtschaftet die Politik den Stadt-Land-Graben. Der Fokus Stadt und Land geht der Frage nach, ob es diesen Graben auch in der reformierten Kirche gibt. Ticken die Gläubigen im Münstertal anders als jene in Schwamendingen? Steht die Kirche auf dem Land noch im Dorf? Und wie funktioniert Kirche in der Stadt?
Landei braucht die Stadt