News aus dem Thurgau

Ist noch Platz für andere Meinungen?

von Ernst Ritzi
min
19.12.2023
«Political Correctness» und «Cancel Culture» sind Begriffe, die im Umgang mit anderen Lebenseinstellungen und Meinungen immer öfter kontrovers diskutiert werden.

«Politische Korrektheit» beschreibt ein Verhalten und eine Sprache, die niemanden beleidigt oder diskriminiert: Ausdrücke und Handlungen werden nicht akzeptiert, die von geschützten Gruppen oder Minderheiten als abwertend, herabsetzend oder beleidigend empfunden werden könnten. Kritiker geben zu bedenken, dass «Politische Korrektheit» dazu führen könne, dass Diskussionen eingeschränkt oder Themen tabuisiert werden könnten.

«Cancel Culture» ist ein Mittel und ein Vorgang der sozialen Ausgrenzung. Es beschreibt die soziale Dynamik, bei der eine Person oder Gruppe öffentlich angeprangert, boykottiert oder «gecancelt» wird, weil sie etwas gesagt oder getan hat, das als inakzeptabel, beleidigend oder unangemessen angesehen wird. Im Extremfall kann das dazu führen, dass die betroffene Person ihre «Plattform», ihren Job oder ihren sozialen Status verliert.

Die Jahreslosung 2024 und der Umgang mit anderen Meinungen
Die kirchliche Jahreslosung 2024 heisst «Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.» (1. Korinther 16,14). Mit der Liebe wird eine Grundhaltung beschrieben, die auch für den Umgang mit anderen Meinungen und Glaubensüberzeugungen gilt. Anderen Menschen in einer Haltung der Liebe zu begegnen, heisst nicht, dass es nicht auch Konflikte und Meinungsverschiedenheiten geben kann und darf.

Jesus sagt in der Bergpredigt in der «Goldenen Regel» (Matthäus 7, 12), dass wir mit anderen so umgehen sollen, wie wir es von ihnen erwarten. In der Diskussion und im Streit erwarte ich von meinem Gegenüber, dass er oder sie bereit ist, zuzuhören und wenigstens versucht, zu verstehen, was mir wichtig ist. Ich erwarte, dass mir der Glaube nicht abgesprochen wird. Ich erwarte, dass der oder die Andere die Möglichkeit einräumt, sich vielleicht auch zu irren.

Die Redaktion des Kirchenboten wollte von zwei Fachleuten, die sich beruflich mit Kommunikation beschäftigen, wissen, wie sie den Umgang mit anderen Meinungen erleben.

 

Das meinen Georg Stelzner und Marina Winder:

 

Human Correctness hat sich etabliert

Georg Stelzner, freischaffender Journalist, Sulgen

«Die Frage, ob noch Platz für andere Meinungen sei, mutet in einer Epoche, in der die Meinungsfreiheit zu den grössten Errungenschaften zählt, recht seltsam an.

Die Absurdität ist dem Umstand geschuldet, dass Staat und Gesellschaft bezüglich Meinungsäusserung unterschiedliche Massstäbe anlegen. Während ersterer mit Gesetzen präzise definiert, was erlaubt ist, mäandert letztere – je nach Zeitgeist – zwischen Duldung und Verbot. Die Fallgrube, in welche wir zu stürzen drohen, ist von der sogenannten Political Correctness ausgehoben worden.

Vom früheren deutschen Bundespräsidenten Heinrich Lübke heisst es, er habe bei einem Staatsbesuch in Liberia 1962 nicht nur zu ‹sehr geehrten Damen und Herren›, sondern auch zu ‹lieben Negern› gesprochen. Tatsache, Anekdote oder Verleumdung? Sicher ist, dass eine solche Anrede heute unvorstellbar wäre. Mit Political Correctness hat das aber nichts zu tun, sondern mit einer Bewusstseinsänderung, basierend auf Anstand und Respekt.

Die Political Correctness ist ein Diktat mit dem Anspruch, andere zu bevormunden und zu verurteilen. Sie gibt vor, eine Mehrheit zu vertreten und hindert uns daran, authentisch zu sein und eigenverantwortlich zu handeln. Kultivierte Menschen brauchen keine semantische Gouvernante, denn sie sind etwas anderem verpflichtet: der Human Correctness!

Im seriösen Journalismus ist diese Haltung etabliert. Grenzüberschreitungen werden der Satire zugebilligt, doch auch deren Protagonisten sollten mit dem Florett und nicht mit dem Säbel fechten.»

Meinungsfreiheit unter Druck

Marina Winder, IRF Reputation und Elsa Kommunikation, Elsau

«Kürzlich hat ein ETH-Professor den chinesischen ‹Citizien- Score› in seiner Vorlesung in Frage gestellt. Kritiker sehen darin ein Mittel zur Überwachung der Bevölkerung. Der Professor warnte laut NZZ davor, Menschen als Datensätze zu behandeln. Er machte auf das Problem unangebrachter Verallgemeinerungen anhand von Beispielen unangebrachter Verallgemeinerungen aufmerksam – darunter das Beispiel aus China.

Die Darstellung war ungeschickt. Aber im Kontext war klar, was er sagen wollte. Es war auch klar, dass er der chinesischen Bevölkerung nichts Böses wollte. Im Gegenteil, er wollte sein Unbehagen gegenüber dem datenbasierten ‹Citizien-Score› in China ausdrücken.

Niemand reagierte während der Vorlesung. Die Folie verbreitete sich danach jedoch rasant im Netz. Ohne Kontext. Dafür mit Rücktrittsforderungen und gar Morddrohungen. Die Studierenden glaubten, im Sinne der ‹Political Correctness› zu handeln und die chinesische Würde zu verteidigen.

Die ‹Political Correctness› soll Minderheiten schützen, doch wer schützt die Minderheit der Andersdenkenden? Dass Meinungen, Kontexte oder eben Menschen wie der Professor radikal ausgegrenzt werden, gehört zur ‹Cancel Culture›. Sie will alles Ungerechte ein für alle Mal auslöschen – und schafft damit oft neues Unrecht.

In der Schweiz ist die Meinungsfreiheit kaum durch staatliche Zensur gefährdet, jedoch zunehmend durch gesellschaftlichen Druck. Der Professor hat am Ende die Studierenden um Verzeihung gebeten.»

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