In aller Stille
«Wir müssen Abschied nehmen.» Die Pfarrerin benötigt keine Anstrengung, ihre Worte erreichen die Trauernden ohne Mikrophon. Sie stehen im Kreis um die Urne. Eine kurze Erinnerung. 85 Jahre. Ein Bibelwort. Der Weg zum Grab. «Erde zu Erde, Asche zu Asche...». Dreifacher Erdwurf. Blütenblätter. Eine halbe Stunde. Dann gehen sie. Zehn Personen. «Die Kirche ist für uns zu gross», diesen Satz hört die Pfarrerin häufiger. Und auch, dass der Verstorbene keine «grosse Beerdigung» gewünscht habe.
Abschied als Privatsache
Abdankungen werden nicht nur individueller. Sie wandeln sich immer mehr vom öffentlichen zum fast privaten Anlass. Hatte früher der Aspekt der «Abdankung» aus der grösseren Sozialgemeinschaft, aus der Wohn- und Kirchgemeinde, einen wesentlichen Stellenwert bei der Abschiedsgestaltung, so ist heute oft eine öffentliche Teilnahme nicht erbeten. Es kommt vor, dass die Bekanntmachung des Abdankungsortes und des -zeitpunktes durch die gemeindliche Behörde nicht gewünscht wird. Wer nicht zum «engsten Kreis» gehört, der erfährt nicht selten zufällig und erst sehr viel später vom Versterben eines Nachbarn oder Arbeitskollegen, so dass ein Abschiednehmen nicht mehr möglich ist.
«Du gingst fort...»
Auch Todesanzeigen erfahren den Wandel. Ihr Sinn: Einen Verlust der Öffentlichkeit bekanntzumachen. Damit nicht nur der engste Familienund Freundeskreis vom Tod eines Menschen erfuhr, zeigten die Angehörigen an, wer verstorben war und wann von ihm Abschied genommen werden konnte. Heute besteht die Traueranzeige häufig in einer fiktiven Kommunikation mit dem Verstorbenen: «Du gingst fort... Wir sind traurig.» In der letzten Zeile: «Wir haben in aller Stille Abschied genommen...» Zugleich bekommt das Abschiednehmen auf den Trauerseiten im Internet eine nie gekannte unpersönliche Öffentlichkeit. Konventionen treten zurück. Individuelle Gestaltung tritt in den Vordergrund Diese allgemeine soziokulturelle Entwicklung macht auch vor der Bestattung nicht Halt. Das macht den Umgang mit Trauersituationen nicht nur einfacher. In der Abschiedsgestaltung ist ein grosser Freiraum entstanden. «Das haben wir zunächst als große Befreiung empfunden; als wir dann vieles von den alten Ritualen abgelegt hatten, wurde uns plötzlich bewusst, dass wir damit auch viel verloren haben», so Reiner Sörries, der sich der Kulturgeschichte des Friedhofs und der Trauer in mehreren Monografien gewidmet hat.
Kompetente Begleitung
Eigene Gestaltungsentscheidungen sind nun unumgänglich und bergen neben Chancen viele Herausforderungen, die bei der Findung eines gemeinsamen Abschiedsweges der Trauernden – in Übereinstimmung mit dem Willen des Verstorbenen – beginnen. Die Aufgabe der Beratung und Begleitung der Trauernden verlangt von den Fachpersonen entsprechende Sachund Personalkompetenz. Häufig sind Abschiede auch «Berührungen mit Kirche». Wo in dieser sensiblen Situation Trauerräume eröffnet werden können, die – bei aller Sorge um die Individualität – Verbundenheit in der gemeinsamen Suche nach einem weiterreichenden Horizont und Halt erleben lassen, entsteht eine Chance auch zu weiterem spirituellem Wachstum. Die Trauerbegleitung im Abschiednehmen bleibt auch darum eine der Kernaufgaben kirchlichen Handelns.
(Karin Kaspers Elekes, 22. November 2019)
In aller Stille