News aus dem Thurgau
Brigitt Küttel: Tochter der ersten Bundesrätin

«Ich war nicht bereit, mein Leben der Popularität meiner Eltern unterzuordnen»

von Carmen Schirm-Gasser
min
27.05.2024
SCHAFFHAUSEN | Brigitt Küttel ist die Tochter der kürzlich verstorbenen Ex-Bundesrätin Elisabeth Kopp. Sie spricht in der Kirche Schaffhausen erstmals über die Zeit, als ihre Familie vorverurteilt wurde, sie ihr Auto täglich nach Bomben untersuchen musste und ihr Jobs verwehrt wurden.

Frau Küttel, Sie haben Ihr ganzes Leben lang die Öffentlichkeit gemieden. Was ist der Grund, dass Sie jetzt im August öffentlich in Schaffhausen auftreten?

Grundsätzlich hat sich an meiner Haltung nichts geändert, ich suche die Öffentlichkeit nicht. Als junge Frau nahm ich nie an Anlässen teil, von denen ich wusste, dass Journalisten dort sind. Nach dem Tod meiner Mutter vergangenes Jahr hatte ich verschiedene Medienanfragen und habe diese abgelehnt. Eine Anfrage von der NZZ sowie eine Anfrage der Reformierten Kirche für ein Gespräch in Schaffhausen habe ich dann doch angenommen. Der Grund war, dass in all den Jahren viele unschöne Dinge passiert sind, worüber ich immer geschwiegen hatte, auch um meine Mutter zu schonen. Sie fühlte sich immer sofort schuldig, dass ihre Karriere so einen Einfluss auf mich hatte. Nun soll all das einmal gesagt werden.

Wie schwierig war es für Sie als Tochter der ersten Bundesrätin der Schweiz, eine eigene Identität aufzubauen?

Es war eine Chance und eine Last zugleich. Ich habe dank meinen Eltern viele wertvolle Menschen kennenlernen dürfen, die auch meine Freunde wurden. Gleichzeitig war es nicht einfach, eine eigene Identität zu finden und mir klar darüber zu werden, was ich will und was nicht. Ich habe in meiner Jugend wegen meiner Eltern viele Dinge gleich gemacht wie sie. Ich trainierte beispielsweise Eiskunstlauf wie meine Mutter. Nur war sie erfolgreich, während ich komplett unbegabt war. Ich habe Jus studiert wie meine Eltern, mich dann aber entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Es wäre der grosse Traum meines Vaters gewesen, dass ich sein gut laufendes, florierendes Anwaltsbüro übernehme. Ich merkte jedoch, dass das nicht meine DNA ist, und machte mich im Bereich der gemeinnützigen Organisationen selbstständig.

Wie stark war der Druck des Vaters?

Der Druck von meinem Vater war recht gross. Er hatte sich sehr gewünscht, dass ich sein Anwaltsbüro übernehme. Und er war es auch nicht gewöhnt, dass sich jemand anders entscheidet, als er es wollte. Das war schmerzhaft für ihn zu akzeptieren.

Wie standen Sie zur Karriere Ihrer Mutter?

Meine Mutter hat sehr viel für uns Frauen bewegt. Das hat mich mit grossem Stolz erfüllt. Aber es hat mir auch Sorgen gemacht, was sie alles auf sich genommen hat. Schon vor dem Höhepunkt ihrer Karriere, als sie das beliebteste Mitglied des Bundesrates war, hat für mich der Rückzug begonnen. Ich war nicht bereit, mein ganzes Leben der Popularität und dem Erfolg meiner Eltern unterzuordnen. Damals bin ich von daheim ausgezogen, gegen den erbitterten Widerstand meines Vaters. Ich bin in eine kleine bescheidene Wohnung gezogen, bin mit wenig Geld durchgekommen. Zeitlebens hatte ich den Wunsch, als Brigitt gesehen zu werden und nicht nur als Tochter. Als es dann schwierig wurde für meine Eltern, kam ich zurück und stand hinter ihnen.

Ich musste jeden Tag mein Auto auf allfällige Sprengsätze kontrollieren.

Wie haben Sie den Rücktritt Ihrer Mutter als Bundesrätin und den Medienskandal erlebt?

Nach dem erzwungenen Rücktritt und dem schändlichen Abschied aus dem Bundesrat durch die Hintertüre ging es meiner Mutter sehr schlecht. Ich nahm damals spontan eine Woche Ferien und war die ganze Zeit bei ihr. Liess sie nicht allein, habe stundenlange Spaziergänge mit ihr gemacht. Auch beim Verfahren vor Bundesgericht habe ich sie begleitet.

Welche Auswirkungen hatte diese Zeit auf Sie persönlich?

Ich war schon ein beliebtes Ziel von Drohungen, bevor die eigentliche Schlammschlacht anfing. Ich musste jeden Tag mein Auto auf allfällige Sprengsätze kontrollieren. Die Polizei sagte, ich dürfe nicht an zwei Tagen hintereinander den gleichen Weg zur Arbeit fahren. Auch beruflich hatte es schwerwiegende Folgen für mich.

Welche?

Ich sah den Beruf einer Jugendanwältin als meine Berufung an. Ich habe dafür gebrannt. Darum habe ich Jus studiert, aus keinem anderen Grund. Ich hatte mich insgesamt auf drei Stellen als Jugendanwältin beworben, dreimal bekam ich die Antwort, dass ich die bestqualifizierte Kandidatin sei, aber man mich mit diesem Namen «leider» nicht anstellen könne. Einer hatte den Mut und sagte mir, wenn ich wenigstens verheiratet wäre und einen anderen Namen hätte, hätte er mich vielleicht angestellt. Alle hatten Angst vor der gesellschaftlichen Reaktion.

Wie sehr haben Sie diese Absagen getroffen?

Das hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen. Ich hatte ja Jus studiert, weil ich unbedingt Jugendanwältin werden wollte. Ich bin keine besonders gute Juristin (ausser unterdessen im Stiftungsrecht, das ich seit 30 Jahren praktiziere) und musste mich komplett anders orientieren. Aber es hatte auch sein Gutes.

Sie sehen im Nachhinein etwas Positives darin?

Es gibt irgendeinen Grund, warum das alles so passiert ist. Aber häufig versteht man diesen erst im Nachhinein. Ich hätte nicht dieses fantastische Unternehmen, das ich seit bald 28 Jahren führen darf. Wenn ich Jugendanwältin geworden wäre, hätte ich sicher meine zwei älteren Töchter nicht. Ein Leben ohne meine Kinder könnte ich mir nicht vorstellen.

Die Kirche als Institution hat kritische Seiten, sie macht aber auch viel Wertvolles.

Was hat Sie damals gestützt?

Ich bin gesegnet mit einem tollen Freundeskreis, viele aus der Pfadi.

Inwieweit hat Sie die Pfadi geprägt?

Die Pfadi hat mich sozialisiert. Ich war ein Einzelkind, ein unmögliches noch dazu, konnte keinen Kaugummi teilen. Und ich wollte auf keinen Fall in die Pfadi. Mein Vater hingegen akzeptierte nicht, dass ich über etwas urteilte, was ich nicht kannte. «Du gehst dreimal dorthin, und wenn du es danach nicht willst, akzeptiere ich das», sagte er. Ich war nach der ersten Teilnahme so begeistert, dass ich dabei blieb und später fast vom Gymnasium gefallen bin, weil ich in der Pfadi so engagiert war. Das ist eine Gemeinschaft mit Werten, die mich getragen hat.

Die Pfadi hat Sie auch getragen – für Sie überraschend?

Nach dem Rücktritt meiner Mutter und den Skandalen war eine Pfadi-Delegiertenversammlung, an der ich mich zur Wiederwahl als Kantonsleiterin gestellt hatte. Am Tag zuvor hatte ich Albträume, was passieren könnte. Doch alle standen hinter mir. Ich wurde mit einem fantastischen Ergebnis erneut gewählt. In der Pfadi nahm man mich als Brigitt resp. «Funke», der Rest spielte keine Rolle.

Sie sind Mitglied der evangelisch-reformierten Kirche. Aktiv?

Ich bin ein sehr loyaler Mensch. Die Kirche als Institution hat kritische Seiten, sie macht aber auch viel Wertvolles. Deshalb zahle ich gerne meine Kirchensteuern, bin aber keine regelmässige Gottesdienstbesucherin. Ich habe aber meinen Glauben. Ich glaube durchaus, dass es irgendwo eine höhere Macht gibt.

Was empfehlen Sie Menschen, die Ungerechtigkeit erleben?

Kein Rückzug, sondern im Gespräch bleiben, mit Freunden darüber sprechen. Gut überlegen, ob man in die Öffentlichkeit will. Damit exponiert man sich stark und bietet wieder Angriffsfläche. Ich war auch mit meinen Eltern nicht einverstanden, die sich gegen jede falsche Aussage in den Medien juristisch gewehrt hatten.

 

Brigitt Küttel

Die 60-jährige Juristin gründete ein Dienstleistungs- und Beratungsunternehmen für gemeinnützige Organisationen, «stiftung.ch». Mit der Kyria Dachstiftung, die sie errichtet hat, motiviert sie Menschen, sich gemeinnützig zu engagieren. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Töchtern sowie Grossmutter von zwei Enkeln. Als ihre Mutter Elisabeth Kopp am 2. Oktober 1984 zur ersten Bundesrätin gewählt wurde, war sie 21 Jahre alt.

1988 startete eine mediale Kampagne gegen ihre Mutter wegen eines verhängnisvollen Telefonats mit ihrem Ehemann Hans W. Kopp. Elisabeth Kopp bat ihn damals aufgrund von Informationen ihrer Mitarbeiterin, aus dem Verwaltungsrat der Firma Shakarchi Trading AG auszutreten. Die Firma war unter Geldwäscherei-Verdacht geraten – zu Unrecht, wie sich später herausstellen sollte. Am 12. Dezember 1988, wenige Tage nach ihrer Wahl zur Vizepräsidentin des Bundesrats, gab Elisabeth Kopp ihren Rücktritt bekannt. Sie starb vor rund einem Jahr.

FDP-Präsident Thierry Burkart entschuldigte sich nach der öffentlichen Abdankung am 3. Mai in Zumikon im Namen seiner Partei dafür, dass die FDP sich in den Wochen vor dem Rücktritt und danach von ihrer Bundesrätin abwandte und sie im Stich liess.

Veranstaltung

Talk im Saal – «Tochter von …»: Brigitt Küttel im Gespräch zum Spannungsfeld zwischen Identität und Sippenhaft. Donnerstag, 29. August, 18.30 Uhr, Ulmer-Saal, Ochseschüür, Pfrundhausgasse 3, Schaffhausen.

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