Hildegard von Bingen: Influencerin des Mittelalters
Wer in die Kirche der Abtei St. Hildegard in Rüdesheim am Rhein DE tritt, wird zunächst sicherlich die riesige Christusdarstellung an der Apsisdecke bemerken: ein freundliches Gesicht, offene Arme, warme Farben. Die vielen Touristen, die diesen geschichtsträchtigen Ort hoch über dem Rhein besuchen, beschreiben den Christus in der Kirche häufig als überraschend einladend und anrührend – über alle Grenzen von religiöser oder konfessioneller Zugehörigkeit hinweg.
Eine weitere Auffälligkeit der neoromanischen Abteikirche sind die vielen Frauenfiguren, gemalt in der schlichten und weniger historisch-realistischen als stilisierten Art des Jugendstilvorläufers der Beuroner Kunstschule. Mehr als in den meisten anderen Kirchen sind es hier heilige Frauen, die das Gesamtbild prägen: Eva im Paradies, Erzmutter Sara aus dem Zelt schauend, Maria inmitten des Pfingstgeschehens – und an der Seitenwand eine ganze Reihe benediktinischer Nonnen. Da finden sich grosse deutsche Mystikerinnen wie Mechthild von Magdeburg, aber auch unbekanntere Namen, meist aus der Region Rupertsberg/Bingen.
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Gemüsesuppe und Kräutersalbe?
Ein Bild steht dabei im Zentrum. Es zeigt die mittelalterliche Äbtissin Hildegard (1098–1179) mit einem Federkiel in der Hand, sitzend auf einem Thron, unter ihr die Inschrift «S. Hildegardis Prophetissa», also: heilige Hildegard, Prophetin. Eine weitere Inschrift weist die Dargestellte aus als eine, der die Wege Gottes offenbart wurden und die diese den Menschen vermittelt hat. Diese Inschrift ist erstaunlich: Sie zeigt, wie sehr Hildegard verehrt wurde und wie selbstverständlich sie als Heilige galt, lange bevor sie dies in kanonischem Sinne war: Obwohl gestorben im Jahr 1179, wurde Hildegard erst im Jahr 2012 offiziell heiliggesprochen. Besser spät als nie!
Für diese Anerkennung verantwortlich waren nicht zuletzt zahlreiche Vorstösse von Ordensfrauen, die in der Abtei St. Hildegard leb(t)en und sich intensiv mit dem Leben und Wirken Hildegards befass(t)en. Während das Vermächtnis Hildegards im kollektiven Gedächtnis gerne auf Kräuterkunde reduziert wird – Internetsuchresultate wie Gemüsebrühe, Hustentee und Gelenksalbe zeugen davon –, bleiben die hochkomplexen theologischen Schriften der Universalgelehrten häufig unerwähnt. Zugänglich ist der «Kosmos Hildegard» nicht, das steht fest. Die Äbtissin von Rupertsberg und Eibingen hat viel und vielseitig geschrieben bzw. diktiert: «Liber Scivias», «Liber Vitae Meritorum», «Liber Divinorum Operum», «Causae et Curae», «Physica» – so lauten die Buchtitel. Dazu kommen kleinere Schriften, Briefwechsel und eine Sammlung Gesänge und ein Singspiel. Gerade die beiden Schriften zu Naturkunde und Heilkunde sind es, bei denen die Autorenschaft durch Hildegard nicht unumstritten ist. Die drei Visionsschriften hingegen gelten mit zahlreichen Abschriften als sicher überliefert.
Hinhören, herausschälen …
Alle drei Visionsschriften reihen sich ein in eine Schrifttradition von geistlichen Wegweisungen: Wie gelangt der Mensch zur Erlösung, zum Heil? Wie lässt sich das Verhältnis von Gott und Mensch bestimmen? Wie steht es um Gut und Böse in dieser Welt? Welcher Sinn und welche Ordnung liegen dem Kosmos zugrunde? Als Grundlage für diese Ausführungen dienen der Autorin Erfahrungen, die sie als Visionen beschreibt. Wie wir uns diese nun genau vorzustellen haben – und ob dabei halluzinogene Substanzen, akute Migräneanfälle oder ein emanzipatorischer Kniff, um der männlich-klerikalen Zensur zu entgehen, eine Rolle spielten –, braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Fest steht: Die Autorin schreibt diese visionären Bilder nieder, ordnet sie in ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihren eigenen Lebenskontext ein und deutet sie so, dass sie anderen Menschen nützlich sein können.
 Die Fähigkeit zur Prophetie ist für Hildegard, trotz ihres zeittypisch ausgeprägten Ständedenkens, etwas Menschliches: Alle Menschen sind dazu in der Lage. So lässt sich auch der Begriff der Prophetin bis heute verstehen: Weniger geht es um ein «Vorhersagen» der Zukunft oder um eine besondere Hellsichtigkeit als um die Fähigkeit, «hervorzusagen». Da klingt an: herausschälen, sortieren, auf den Begriff bringen, beim Namen nennen können. Da klingt aber auch an: hinschauen, hinhören können.
Wesentlich für Hildegards Kosmos ist ihre Lebensform als Benediktinerin. Nur in diesem Kontext lässt sie sich erschliessen: Ihr Alltag ist durchwirkt von den Texten der Bibel, ihr Tageslauf geprägt durch die Unterbrechung und das Einüben des Hinhörens in sieben liturgischen Zeiten, eingebettet in das Kirchenjahr, durch Zeiten der Gemeinschaft und Zeiten der Stille, der persönlichen Lektüre und der Arbeit. Ihr Lebensort ist das benediktinische Kloster, ihre Motivation die Gottsuche und ein Streben nach Vollkommenheit.
Als Äbtissin ist sie verantwortlich für das seelische und das körperliche Wohl von zwei Schwesterngemeinschaften auf dem Rupertsberg und in Eibingen. Die Richtschnur für dieses Leben bildet die Regel des heiligen Benedikt von Nursia aus dem 6. Jahrhundert, die mit grosser Weite und Klugheit die Einzelheiten eines solchen Lebens bis heute definiert und durchdenkt. Sie beginnt nicht zufällig mit dem Wort «höre!». Hildegard war also geübt im Hinhören, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht – wie es bis heute Benediktinerinnen und Benediktiner intensiv versuchen.
 … und antworten!
Ein überraschend aktuelles Beispiel für Hildegards Hören ist ihre Schöpfungsspiritualität. Sie beschreibt in «Liber Vitae Meritorum», wie sie die Klage und den «wilden Schrei» der Elemente hört, die «schon stinken wie die Pest» und nach Gerechtigkeit rufen. Diese bildhafte Sprache passt nahtlos in heutige Schreckensnachrichten von schreienden Elementen: Waldbrände, Überschwemmungen und Luftverschmutzung … Dieser Schrei der Elemente ist heute eigentlich nicht zu überhören. Hildegard ruft schon im Mittelalter den Menschen dazu auf, Verantwortung für das von Gott Geschaffene zu übernehmen, nicht um seiner selbst willen, sondern als Antwort auf Gottes Schaffen. Gott kreiert aus Liebe, um sich mitzuteilen, um Beziehung zu suchen – bis heute –, und wartet auf die Antwort des Geschaffenen. Die Blume, so das Verständnis von Hildegard, blüht zum Lob Gottes. Das Hören ist also kein einseitiges Geschehen, sondern Dialog, Beziehungsgeschehen. In diesem Selbstverständnis stehen auch das Schreiben und das geistliche, politische, seelsorgerliche Wirken von Hildegard. Die Prophetin, Ordensfrau und Universalgelehrte nennt sich, fast schon kokettierend, die «kleine Posaune Gottes». Hörbar – auch nach 925 Jahren.
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Geneva Moser
Geneva Moser, *1988, ist Co-Redaktionsleiterin der religiös-sozialen Zeitschrift «Neue Wege» und Fachmitarbeiterin der Hochschulseelsorge Bern. Mit der heiligen Hildegard befasst sie sich nicht wissenschaftlich, sondern hat sich während einer Zeit als Klosterkandidatin (Postulantin) in der Abtei St. Hildegard von der Heiligen beeindrucken lassen.
Hildegard von Bingen: Influencerin des Mittelalters