News aus dem Thurgau
Fokus: Liebe und Partnerschaft

«Helke Bruchhaus, darf man den Hochzeitstag vergessen?»

von Tilmann Zuber
min
09.05.2024
Wir alle träumen von der ewigen Liebe. Doch die Scheidungsrate von bald 50 Prozent zeigt ein anderes Bild. Die Paartherapeutin und Sexologin Helke Bruchhaus Steinert über die Fallstricke in der Partnerschaft und die Kunst, den anderen zu akzeptieren.

Helke Bruchhaus Steinert, «Ewige Liebe, ewige Lust» lautet das Thema eines Vortrags, den Sie an der Volkshochschule Basel halten. Ist das Ansporn oder Überforderung?

Beides. Die Liebe muss gepflegt und gehegt werden. Eine Partnerschaft ist keine Selbstverständlichkeit. Batterien haben eine Lebensdauer, irgendwann sind sie leer, wenn man sie nicht auflädt. Aber Liebe und Lust sind auch Gegenspieler. Sexualität lebt auch vom Neuen und Unbekannten. Deshalb stehen Paare vor der Frage, wie sie die Anziehungskraft und die sexuelle Spannung erhalten können, wenn sie sich so gut kennen und lieben.

Seit 30 Jahren lesen Paare den Bestseller «Die fünf Sprachen der Liebe» des Therapeuten Gary Chapman. Was halten Sie von diesem Ansatz?

Das Buch wurde in den 90er-Jahren geschrieben. Damals ging es darum, wie man sich gegenseitig etwas Gutes tut. Anerkennung, Wertschätzung, Aufmerksamkeit, Geschenke und Zärtlichkeit tun gut, aber sie sind auf den anderen ausgerichtet. Aber was ist, wenn ich selber das Gefühl habe, ich komme zu kurz? Ich habe so viel investiert, und der andere geht immer noch fremd, kümmert sich nicht um die Kinder oder will nur seinen Sex, aber nicht meine Zärtlichkeit. Dann kippt das Gleichgewicht, und man fühlt sich betrogen.

Was schlagen Sie vor?

Für mich hat es sich in der Paarberatung bewährt, auch die Unterschiede anzusprechen. Sich zu fragen: Du bist anders, warum bist du so, und warum ist dir das wichtig? Und kann ich davon profitieren? Konflikte sind normal im Leben, Balance finden ist normal, das Leben kleckert einem sowieso vor die Füsse.

Der Psychiater und Psychotherapeut Jürg Willi hat einmel gesagt: «Paare müssen sich lustvoll streiten können.» Wenn ich es spannend finde, dass der andere anders ist und wir daraus um Gemeinsamkeiten ringen, dann bleibt die Partnerschaft auf Dauer lebendiger.

Sonst wird es schnell langweilig?

Ja, das stimmt.

Wir legen heute so viel in die Partnerschaft, was früher auf vielen Schultern ruhte.

Erwarten wir heute zu viel vom anderen?

Ja, wir legen heute so viel in die Partnerschaft, was früher auf vielen Schultern ruhte. Vor hundert, zweihundert Jahren war die Ehe eine ökonomische Gemeinschaft, die vor allem das Überleben sicherte. Heute sollen die Partner sexuell passen, sich gegenseitig unterstützen, Karriere machen, Geld verdienen, gute Eltern sein, Spass haben, einfühlsam sein und sich später um die alten Eltern kümmern. Das ist eine Herausforderung, oft eine Überforderung, vor allem, wenn der andere nicht mit allem einverstanden ist.

Was kann man tun?

Man muss nicht alles gemeinsam machen. Es braucht ein Eigenleben. Oft hilft es, wenn man etwas alleine mit Freundinnen und Freunden unternimmt. Schwierig wird es, wenn grundlegende Lebensvorstellungen nicht zusammenpassen.

Wie meinen Sie das?

Ein typisches Beispiel ist der Kinderwunsch mit Mitte dreissig. Sie sagt: «Ich will ein Kind.» Er sagt: «Ich will noch warten.» Für die Frau tickt die biologische Uhr, er will seine Freiheit nicht aufgeben. Die beiden stehen vor der Frage: Finden sie zueinander, oder trennen sie sich?

Sollte der Mann in dieser Situation nicht über seinen Schatten springen? Die Frau kann ja den Kinderwunsch nicht auf später verschieben.

Klar, aber vielleicht sieht er sich nicht als Vater und hat viel anderes vor. Es ist ein grosser Schritt, zu sagen: «Du bist mir so viel wert, und das Leben mit dir ist so aufregend, dass ich mich darauf einlasse.»

Wir wollen mehr. So gibt es auch mehr Gelegenheiten, enttäuscht zu werden.

Ist Liebe heute kompliziert?

Ja und nein. Ja, weil so viele Ansprüche an die Liebe gestellt werden. Früher war das anders. Eine Siebzigjährige hat mir mal vor Jahren gesagt: «Mein Mann hat mich nie geschlagen, da kann ich ganz zufrieden sein.» Davon sind wir heute weit entfernt. Wir wollen mehr. So gibt es auch mehr Gelegenheiten, enttäuscht zu werden. Wir müssen lernen, mit diesen Enttäuschungen umzugehen. Auch mit den Grenzen, die uns trotz aller Freiheit gesetzt sind.

Jürg Willi hat einmal gesagt: «Liebe heisst unterstützen, herausfordern und auch Grenzen setzen.» Herausfordern im Sinne von: «Ich traue dir etwas zu, du bist toll.» Und Grenzen setzen, wenn etwas nicht zu mir passt und nicht machbar ist.

 

Helke Bruchhaus Steinert führt eine Praxis für Psychotherapie und Psychiatrie. Ihr Schwerpunkt sind Beziehungsprobleme, Paartherapie und Sexualtherapie.

 

Unsere Erwartungen an die Liebe werden durch die Umwelt und die Medien geprägt. Zum Beispiel, dass man seiner Liebsten am Valentinstag Blumen schenkt. Darf man sich dagegen wehren?

Man muss sogar. Der Valentinstag oder der Muttertag sind ja reine Verkaufsschlager, die die Menschen zum Kaufen animieren sollen. Natürlich sind es die kleinen Geschenke und Überraschungen, die eine Beziehung lebendig halten. Aber jedes Paar hat seine eigenen Daten, die ihm etwas bedeuten, zum Beispiel den Tag, an dem man sich verliebt hat, oder den Hochzeitstag. Diese Daten sind wichtig.

Darf man den Hochzeitstag vergessen?

Das hängt davon ab, welche Bedeutung diese Tage für das Paar haben. Wichtig ist, dass man daran denkt, was dem anderen wichtig ist.

Wenn beide sexuell immer das Gleiche wollen müssen, kommt selten etwas zustande.

Ein Evergreen, über den sich Paare streiten, ist der Sex. Der eine will, der andere nicht.

Es ist ganz normal, dass der eine mehr will und der andere weniger. Aber wenn man im Sex davon ausgeht, dass beide immer Lust haben müssen, dann gerät derjenige, der weniger will, in eine Verteidigungshaltung und blockt ab.

Und das Ganze wird verkrampft und führt zu Konflikten, die jahrelang schwelen.

Ja, und das Thema, das eigentlich Freude und Lust bereiten soll, wird plötzlich schwierig. Ulrich Clement spricht von der Gleichheitsfalle. Wenn beide sexuell immer das Gleiche wollen müssen, kommt selten etwas zustande. Schwierig wird es, wenn man davon ausgeht, dass beide gleichzeitig Lust haben müssen.

Ich kann mich auf Sex einlassen, auch wenn ich gerade keine Lust habe. Die Waschmaschine, die ich eigentlich ausräumen wollte, kann warten. Genauso wie der Rasen, den ich mähen wollte. Die Lust kommt oft erst beim Essen. Man sollte etwas entspannter an das Thema herangehen.

Das Thema braucht eine gewisse Lockerheit und Humor.

Das sind zumindest gute Zutaten, wenn man im Bett mit Humor und Fantasie umgehen und seine Intimität bewahren kann. Intimität kann sich auch in Nähe ausdrücken. Gerade ältere Paare berichten, dass sie mehr kuscheln und Zärtlichkeiten austauschen.

Destruktivität passiert nicht im Affekt. Da kann mir keiner sagen, das ist nicht so gemeint.

Gary Chapman spricht von Sprachen der Liebe. Gibt es auch destruktive Sprache in Beziehungen?

Durchaus. Der Psychotherapeut John Goodman hat in den 90er-Jahren diese apokalyptischen Reiter in der Partnerschaft beschrieben. Das sind Kritik, Verachtung, Rechtfertigung und Mauern. Wenn ein Partner immer die Augen verdreht, wenn der andere etwas sagt, dann ist das verächtlich. Oder wenn man nicht reagiert und denkt: «Lass mich in Ruhe!» So gehen Beziehungen kaputt, das geht ganz schnell.

Und man merkt es nicht.

Diese Destruktivität passiert nicht im Affekt. Da kann mir keiner sagen, das ist nicht so gemeint. Hans Jellouschek hat einmal gesagt, Beziehungen werden von selbst schlechter. Wenn man die Beziehung nicht pflegt, dann ist sie wie eine Blume, die kein Wasser bekommt: Sie verdorrt, wird leer und hohl.

Was kann man tun, damit Liebe und Partnerschaft lebendig bleiben?

Man muss sich die Zeit nehmen, die Beziehung zu pflegen, auf den anderen einzugehen und zu verstehen, was ihn beschäftigt, was früher nicht der Fall war. Und man muss zuhören können und nicht ständig die eigenen Dinge und Themen in den Vordergrund stellen. Und es ist eine Frage der Balance.

Gleichgewicht?

Ja, man muss sich immer wieder hinsetzen und schauen, ob die Balance zwischen Gemeinsamkeit, Verbundenheit, Eigenem und Eigenständigkeit stimmt. Jürg Willi wurde einmal nach seiner Pensionierung gefragt, warum er ein so gutes Verhältnis zu seiner Frau habe. Er antwortete: «Weil wir uns darauf geeinigt haben, sechs Stunden am Tag etwas getrennt zu machen. So können wir uns wieder aufeinander freuen.»

Die Balance betrifft auch das Geben und das Nehmen und die Frage: Was investiere ich, und was bekomme ich zurück? Führe ich oder werde ich geführt und kann ich loslassen und den anderen in seiner Eigenart stehen lassen? Je nach Lebenssituation muss diese Balance neu austariert werden.

Was zeichnet schliesslich eine langjährige Beziehung aus?

Dass man einen gemeinsamen Raum und einen eigenen Raum hat und diesen auch dem anderen zugesteht. Dadurch entsteht Bewegung, welche die Partnerschaft lebendig hält.

 

Wir alle leben in Partnerschaften. Was sind Ihre Ratschläge für eine gelingende Beziehung? Ihre Erfahrung interessiert uns.

Schreiben Sie Ihren Ratschlag in die Kommentare oder mailen Sie uns: redaktion@kirchenbote.ch

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