News aus dem Thurgau

Hat das Volk immer recht?

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23.10.2018
Im November stimmt das Volk über die Selbstbestimmungsinitiative der SVP ab. Hilfswerke befürchten einen versteckten Angriff auf die Menschenrechte. SVP-Präsident Albert Rösti und Heks-Direktor Peter Merz zu den Folgen dieser Initiative.

Herr Rösti, die meisten Parteien lehnen die Selbstbestimmungsinitiative ab. Warum braucht es diesen Vorstoss?
Rösti: Die Initiative will die direkte Demokratie sichern. Wer ja sagt zur Demokratie, muss ja sagen zu dieser Initiative. Das einmalige System der direkten Demokratie gibt unserem Land Stabilität und Wohlstand, denn die Rechtsordnung verändert sich nur, wenn Volk und Stände das so wollen. Eine Bevölkerung mit fünf Millionen Stimmberechtigten entscheidet genauer und sensibler als ein paar wenige Politiker, die internationale Verträge aushandeln.

Herr Merz, warum bekämpfen die Hilfswerke die Initiative?
Merz: Natürlich ist es wichtig, dass das Volk mitbestimmt und seine Meinung äussert. Aber wir wehren uns ganz entschieden gegen das, was sich die Initianten zum Ziel gesetzt haben: Die Kündigung der europäischen Menschenrechtskonvention EMRK. Dieser zusätzliche Versicherungsschutz mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg muss unbedingt beibehalten werden.

Will die SVP die Menschenrechte angreifen?
Rösti: Überhaupt nicht. Eines der wichtigsten Menschenrechte, für das die Menschen in der Schweiz seit Jahrhunderten kämpfen, ist die Selbstbestimmung. Die Initiative will die Menschenrechte schützen, die in der Schweizer Verfassung viel umfassender festgelegt sind als in der EMRK.

Konkret: Kann ich nach einer Annahme der Initiative noch an den EMRK-Gerichtshof in Strassburg gelangen, falls Schweizer Gerichte meine Rechte verletzen?
Rösti: Ja, das können Sie. Aber das Gesetz sollte die Opfer schützen, nicht die Täter. Es darf nicht sein, dass kriminelle Ausländer nach ihrer Haft nicht ausgeschafft werden, weil ein internationaler Vertrag dies verhindert. Die Mehrheit der Schweizer hat sowohl die Ausschaffungsinitiative als auch die Masseneinwanderungsinitiative angenommen. Beide wurden kaum umgesetzt. Die Selbstbestimmungsinitiative soll dazu führen, dass die Entscheide des Volkes durchgesetzt werden, auch gegen allfällige internationale Vereinbarungen. Bis 2012 wurde dies auch so gehandhabt. Damals entschied das Bundesgericht, in einem Fall zur Ausschaffung eines kriminellen Ausländers, dass diese nicht vollzogen werden dürfe. Das war ein Padadigmenwechsel, vor 2012 hatten Volksentscheide Vorrang.

 

«Ohne das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit und den freien Zugang zu Informationen kann eine Demokratie nicht funktionieren.» Peter Merz

 

Merz: Bei der Ausschaffung von kriminellen Ausländern sollte man die Einzelfälle anschauen, so wie dies die heutige Rechtsprechung tut. Mit der Annahme der Initiative besteht die reale Gefahr, dass wir in unserem Land einen Teil unserer Menschenrechte verlieren. Mit einer Volksabstimmung könnte man diese aushebeln. Gerade der Schutz der Minderheiten bedingt universelle Menschenrechte, die nicht nur ein Schweizer Thema sind, sondern ein internationales. Deshalb sollte man diese auch auf einer übergeordneten Ebene einfordern können. 2012 war ein Schlüsselmoment, als man feststellte, dass man die Ausschaffungsinitiative nicht eins zu eins umsetzen konnte, sondern für die Urteilsfindung die EMRK berücksichtigen musste. Es gibt immer wieder Initiativen, die das Volk annimmt, die man aber später für die Umsetzung anders interpretieren muss. Ganz abgesehen davon, die Mehrheit der Schweizer hat noch ganz andere Initiativen angenommen, deren Umsetzung Ihre Partei zu hintertreiben versuchte. Ich erinnere an die Alpeninitiative. 

Rösti: Ich staune, wie Herr Merz mit dem Verweis auf die Menschenrechte Täterschutz betreibt. Auch vor 2012 hatte die Schweiz nie Probleme mit den Menschenrechten. Es geht hier um ganz andere Fragen. Wir sollten unsere Rechtsprechung auch in Zukunft direkt demokratisch gestalten können, etwa beim Tierschutz oder bei gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln. In der EU sind Tiertransporte von 60 Stunden möglich. Unzählige Schweine und Hühner überleben dies nicht. Der Tierschutz in der EU ist deutlich schwächer als in der Schweiz. Zu solchen Gesetzen können wir nicht automatisch ja sagen. 

Müssten bei einer Annahme der Initiative die EMRK, die Konvention für Kinderrechte und andere Verträge gekündigt werden?
Merz: Die Verträge würden zur Disposition stehen. Wenn internationale Verträge der Verfassung widersprechen, könnte man diese kündigen. Das führt zu grosser Unsicherheit in Bezug auf die Rechtsprechung. Welche Verträge gelten jetzt noch? Welche werden gekündigt?

Rösti: In einer direkten Demokratie gibt es immer nur ein Recht auf Zeit. Die Bevölkerung befürwortete an der Urne die Personenfreizügigkeit. Der Bundesrat war von einer Zuwanderung von jährlich 8000 Personen ausgegangen. Als jedoch pro Jahr 80 000 kamen, nahmen die Stimmbürger die Masseneinwanderungsinitiative an. Die Bevölkerung hat ein feines Sensorium. Sie verfügt über die nötige Reife, an der Urne Entscheide zu fällen, und hat selbst sechs Wochen Ferien abgelehnt. Bei seinem Rücktritt hat Bundesrat Johann Schneider-Ammann etwas sehr Treffendes gesagt: «Die Schweiz ist ein kleines Paradies.» Dieses Paradies haben wir aufgrund unserer Rechtsordnung, über die wir selber bestimmen können. 

Merz: Auch internationales Recht ist ein Recht auf Zeit und lässt sich ändern. Verträge werden doch dauernd neu verhandelt und entsprechend geändert. Das gehört zum politischen und wirtschaftlichen Alltag. Herr Rösti, wir müssen auch realistisch sein. Wir können uns nicht vor der Welt in unserem kleinen Paradies abschotten. Die Schweiz ist darauf angewiesen, mit anderen Ländern Verträge auszuhandeln und Handel zu treiben. Natürlich finden wir als NGOs, dass man in Sachen Nachhaltigkeit, fairer Handel und Tierrechte deutlich mehr machen sollte.

Rösti: Richtig, die Bevölkerung wägt ja bei ihren Entscheiden die Konsequenzen einer Initiative ab. Dabei kommt nicht immer das heraus, was man selber sich wünscht. Aber es beschliesst eine Mehrheit aus fünf Millionen Bürgerinnen und Bürgern und nicht wenige Politiker und Richter im Ausland. Selbstbestimmung hat mit Abschottung nichts zu tun. Die Bevölkerung weiss sehr genau, welche wirtschaftlichen Konsequenzen ihre Entscheide bringen.

Merz: Das stimmt. Aber ohne das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit und den freien Zugang zu Informationen kann eine Demokratie nicht funktionieren. Das Volk muss beim Gang zur Urne genau wissen, über was es abstimmt. In vielen Ländern, auch in Europa, wird zurzeit die Meinungsfreiheit durch die Machthaber eingeschränkt und Fakten verfälscht. Opfer dieser Entwicklung sind die Minderheiten, die diskriminiert werden. Diese Gefahr sehen wir in der Selbstbestimmungsinitiative.

 

«Die Boni-Manager brauchen keine direkte Demokratie, die können ihre Interessen in internationalen Verträgen regeln.» Albert Rösti

 

Rösti: Vor kurzem wurde der UNO-Migrationspakt abgeschlossen. Im Moment sind die Massnahmen noch unverbindlich. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, dann will man die Ziele umsetzen, z.B. den Aufenthalt von Sans Papiers legalisieren sowie den Geldtransfer von Migranten in ihre Heimatländer erleichtern. Wir wollen, dass die Bevölkerung über solche Sachen abstimmen kann, nicht, dass internationale Gesetze dies automatisch vorschreiben.

Merz: Auch beim UNO-Migrationspakt kommt es darauf an, aus welcher Perspektive man dies sieht. Heks engagiert sich in Migrationsfragen. Wichtig ist die Hilfe vor Ort, so wie es der UNO-Migrationspakt thematisiert. Die Staaten müssen zusammenarbeiten, etwa wenn es darum geht, die wirtschaftliche Entwicklung in Afrika zu verbessern. Dann haben die Menschen eine Lebensperspektive und müssen nicht mehr auswandern. Oder wenn es um die Einrichtung von sicheren Fluchtwegen geht, ohne dass Zehntausende im Mittelmeer ertrinken und die Schlepper mit ihren kriminellen Machenschaften Geld verdienen. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Menschen auf legalen Wegen hierherbringen und hier entscheiden, ob sie ein Recht auf Asyl haben. Solche wichtigen Massnahmen umfasst der Migrationspakt. Aber der Pakt ist kein Gesetz, darüber können die Schweizer nach wie vor abstimmen.

Rösti: Wir befürchten, dass die Schweiz Abkommen unterschreibt, die nicht verfassungskonform sind und die wir trotzdem umsetzen müssen. Wir wollen nicht, dass irgendwo in einem internationalen Elfenbeinturm Entscheidungen getroffen werden, die der Verfassung vorgezogen werden. Gewisse Kreise, beispielsweise die Economiesuisse, würden dann über die Zukunft der Schweiz entscheiden. Die Boni-Manager brauchen keine direkte Demokratie, die können ihre Interessen in internationalen Verträgen vermeintlich besser regeln. Der grösste Widerstand gegen die Selbstbestimmungsinitiative kommt von den internationalen Konzernen. Diese sehen es nicht gerne, wenn das Volk bei ihren Geschäften mitredet.

Tilmann Zuber, Karin Müller, kirchenbote-online, 24. Oktober 2018

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