Handgeläut als Willkomm für die Täuflinge
«Nehmen Sie eine Leiter mit!» So lautet die Aufforderung der ehemaligen Mesmerin Trudi Diem. Ihr Haus steht gleich neben der evangelischen Kirche, von wo man einen wunderschönen Ausblick über das Thunbachtal geniessen kann. Aber zum Geniessen bleibt nicht viel Zeit. Es gilt, die steilen Treppen im Kirchturm zu erklimmen, bepackt mit Kameratasche, Block und eben der Leiter.
Und nicht nur das. Zwischendurch müssen auch Estrichtüren hochgewuchtet werden, bis man endlich die enge Glockenstube betritt. Nun heisst es, sich an den grossen Glocken vorbei- oder untendurch zu zwängen, bis man endlich unterhalb der Taufglocke steht. Die Leiter mitzunehmen ist tatsächlich eine gute Idee gewesen. Geläutet, und zwar von Hand, wird die Glocke jedoch zwei «Stockwerke» tiefer. Der dazu benötigte Lederriemen ist mehr als zehn Meter lang.
«Am Anfang braucht es ein paar kräftige Züge, danach ist die Glocke im Schwung», sagt Trudi Diem. Da ihr Vater 50 Jahre lang Mesmer und Totengräber war, ist ihr das Glockenläuten mehr als vertraut.
«Vieriglüüt» für die Bauern
Sie erinnert sich noch gut, wie sie als Kinder jeweils nach der Schule zur Kirche hoch gerannt sind, für das «Vieriglüüt». Immer vom 1. April bis zum 1. Oktober. Warum nur in diesem Zeitraum? «Dann wussten die arbeitenden Bauern auf dem Feld, dass es Zeit zum Zvieriessen ist», erklärt Trudi Diem. Bei der Kirche angekommen, hiess es, schnell die Treppen zu erklimmen. «So sind wir fit geblieben », sagt die 81-Jährige lachend.
Zuerst galt es, die kleinste Glocke zu läuten, dann die nächstgrössere. Fünf bis acht Minuten lang, das war das Mindeste. Wenn die Kolleginnen läuten wollten, dauerte es auch mal länger. Sie hätten mit den gleichaltrigen Kindern immer eine gute Zeit im Kirchturm gehabt, sagt Trudi Diem.
Bittruf um Frieden
Laut Glockenexperte Hans Jürg Gnehm aus Affeltrangen ist das vierstimmige Geläut eines der historisch wertvollsten im ganzen Kanton. Die grösste Glocke stammt von 1614 vom Schaffhauser Glocken- und Geschützgiesser Johann Heinrich Lamprecht. Die zweitgrösste wurde vom lothringischen Wandergiesser Gérard Lamotte 1642 gegossen. Die mittlere Glocke wurde 1884 in Staad von Jakob Egger gegossen und kam erst 1954 nach Thundorf.
Besonders erwähnenswert sind aber die zweitkleinste Glocke sowie die Taufglocke. Sie sind beide undatiert, aber laut Gnehm dem 14. beziehungsweise dem späten 13. bis frühen 14. Jahrhundert zuzuweisen. Somit könnte die Taufglocke älter sein als die Marienglocke in Wagenhausen, die auf das Jahr 1291 datiert ist. Speziell ist auch, dass die beiden kleinen Glocken dieselbe Inschrift tragen: O Rex Glorie Criste Veni Cum Pace – Oh König der Herrlichkeit, Christus, komm mit Frieden. Dieser alte Bittruf wurde in der vorreformatorischen Zeit am häufigsten verwendet.
Allgemein sei die Bitte um Frieden das meistverwendete Thema bei Glockeninschriften, weiss Gnehm. Speziell hervorheben möchte er den enorm schönen Holzstuhl. Für die letzte Glocke, die 1954 dazu kam, wurde eigens ein Stahlgestell gebaut, damit am schönen, massiven Holzstuhl nichts verändert werden musste.
Jugendliche für Glocken begeistern
1984 war es, als Trudi Diem als Mesmerin anfing. 35 Jahre lang hat sie ihren Dienst versehen. Dabei war es ihr ein grosses Anliegen, auch die jungen Kirchbürgerinnen und Kirchbürger für die Kirche und insbesondere für die Glocken zu begeistern. Dabei gehörte es zum Konfirmationsunterricht, dass die Jugendlichen den Glockenturm besuchen durften.
«Sie hatten grosse Freude daran, an den grossen Klöppeln zu ziehen», sagt Trudi Diem. Dabei lernten die Schülerinnen und Schüler auch den Unterschied zwischen einem Stundenschlag und einem Geläut kennen. Ebenfalls zum Konfirmandenunterricht zählte die Möglichkeit, die Taufglocke zu läuten, während der Pfarrer mit den Eltern und dem Täufling in die Kirche einzog. Diese Tradition, das Taufglöggli durch Konfirmanden zu läuten, wird in Thundorf-Kirchberg auch heute noch gepflegt.
Das Taufgeläut ist laut Hans Jürg Gnehm nicht flächendeckend. Es wird jedoch in verschiedenen Thurgauer Kirchen praktiziert. Gemeinsam ist allen, dass jeweils die kleinste Glocke geläutet wird. Der Zeitpunkt des Läutens ist jedoch unterschiedlich: beim Einzug in die Kirche oder wenn der Pfarrer mit dem Kind am Taufstein steht. Bei mehreren Taufen wird entweder durchgeläutet, oder es wird nach jedem Taufakt innegehalten und für das nächste Kind geläutet.
Präsenz an den Wochenenden
In den 35 Jahren hat Trudi Diem einige Innovationen miterlebt. Als sie Kind war, wurden alle Glocken von Hand geläutet. 1965, so hat sie es in den Notizen ihres Vaters gefunden, wurde auf elektrisch umgestellt. Was aber nicht hiess, dass alles von selbst ging. «Für das Vollgeläut musste von Hand ein Schalter gedreht werden», so Hans Jürg Gnehm. Das deckt sich mit der Aussage von Trudi Diem: «An den Wochenenden mussten wir präsent sein. Dafür konnten wir unter der Woche mit der ganzen Familie wandern gehen.»
Heute werden die Glocken per Computer gesteuert, auch das hat Trudi Diem noch gelernt. Ausser eben der Taufglocke, die liess sich nicht integrieren. Zum Glück für die schöne Tradition!
Auslegung: «O Rex Glorie Criste Veni Cum Pace»
Diese Inschrift, übersetzt «Oh König der Herrlichkeit, Christus, komm mit Frieden», kommt in der Kirche in Thundorf-Kirchberg gleich zweimal vor: auf der zweitkleinsten Glocke und der Taufglocke, die vermutlich aus dem frühen 14. oder späten 13. Jahrhundert stammen. Dies zeugt davon, dass diese Inschrift in vorreformatorischer Zeit häufig verwendet wurde. Allgemein ist die Bitte um Frieden bis zum heutigen Tag die meistverwendete Glockeninschrift. Viele Glocken in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich tragen seit dem Mittelalter diesen Bittruf.
Handgeläut als Willkomm für die Täuflinge