News aus dem Thurgau

Glaubensbekenntnisse zeitgemäss?

von Ernst Ritzi
min
25.04.2025
In den reformierten Schweizer Kirchen wird oft festgehalten, dass die selbst gewählte Bekenntnisfreiheit nicht als Bekenntnislosigkeit zu verstehen sei. Deshalb die Frage: Was hat uns das 1700 Jahre alte Nicänum zu sagen?

Das Bekenntnis von Nicäa ist 1700 Jahre alt. Es gilt als die Zusammenfassung der christlichen Glaubenslehre – hinter die sich auch heute noch sowohl die katholische Kirche als auch die orthodoxen und die evangelischen Kirchen stellen können. Historisch gesehen, wurde mit der vom römischen Kaiser Konstantin im Jahr 325 nach Christus in Nicäa (auf dem Gebiet der heutigen Türkei gelegen) einberufenen Kirchenversammlung (Konzil) der Grundstein für die Lehre von der Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist gelegt.

Weisen auch «Schattenseiten» auf

Neben der theologischen Bedeutung des Nicäa-Bekenntnisses verfolgte der römische Kaiser Konstantin auch die politische Absicht, die Einheit der Christinnen und Christen in seinem Reich zu stärken. In der doppelten Motivation von Kaiser Konstantin ist auch schon die «Schattenseite» von Glaubensbekenntnissen angelegt. Mit staatlicher oder kirchlicher Macht durchgesetzt, können sie zur Ausgrenzung und Verfolgung von Andersgläubigen und zum «Gesinnungsdiktat» führen.

Zur Bekenntnisfreiheit übergegangen

In der reformierten Tradition der Schweizer Kirchen ist im 19. Jahrhundert im Zuge des Liberalismus eine heftige Auseinandersetzung über die Bedeutung und den Sinn von Glaubensbekenntnissen wie dem Apostolikum entstanden. Die reformierten Kirchen gingen in der Folge zur Bekenntnisfreiheit über. In vielen Schweizer Landeskirchen wurde das Apostolikum aus der Liturgie gestrichen oder seine Verwendung als optional erklärt. Die meisten reformierten Kirchen der Schweiz berufen sich in ihren Verfassungen allein auf die Heilige Schrift als Bekenntnisgrundlage.

Die Redaktion des Kirchenboten hat eine Theologin und einen Theologen dazu eingeladen, sich zur Bedeutung des 1700 Jahre alten Glaubensbekenntnisses von Nicäa zu äussern.

 

Das meinen Stephan Jütte und Christina Aus der Au:

 

Stephan Jütte

Stephan Jütte

Christina Aus der Au

Christina Aus der Au

 

Ergründen, was uns
trägt und verbindet

 

Bekenntnisse haben Spaltungen nicht verhindert. Und oft wurden sie zur Machtdemonstration missbraucht. Doch zugleich zeigen sie: Christlicher Glaube ist kein privater Besitz. Er wird öffentlich bekannt – in Gemeinschaft, im Streit, im Vertrauen.

Das Nicänische Glaubensbekenntnis entstand nicht aus Harmonie, sondern aus Auseinandersetzung. Es war ein Versuch, das Evangelium in seiner Tiefe und Weite gemeinsam zu fassen – im Ringen, nicht im Rechthaben.

Auch heute bleibt Einheit ein Wagnis. Sie lebt vom Dialog, vom Dissens, von der Bereitschaft, sich herausfordern zu lassen – und von der Treue zu dem, was Christinnen und Christen seit Jahrhunderten trägt.

Der Glaube lässt sich nicht verordnen. Er muss je neu entdeckt, befragt, angenommen und gelebt werden. Das ist die grosse Errungenschaft der reformatorischen und liberalen Theologie: Freiheit im Glauben ist keine Beliebigkeit, sondern Verantwortung.

1700 Jahre nach Nicäa lädt uns das gemeinsame Bekenntnis nicht zu Uniformität ein – sondern zu einer gemeinschaftlichen Suche nach dem, was uns trägt und verbindet. Verwurzelt in einer grossen Tradition. Offen für die Gegenwart.

Stephan Jütte, Leiter Theologie und Ethik, Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz EKS, Bern

 

Ein Bekenntnis
könnte sich lohnen

 

Die evangelisch-reformierten Kirchen der Schweiz sind seit dem 19. Jahrhundert bekenntnisfrei. Damals wandten sich Pfarrer gegen den Zwang, im Gottesdienst das apostolische Glaubensbekenntnis sprechen zu müssen. Angesichts der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mochten sie nicht mehr von einer Jungfrauengeburt oder einer Höllenfahrt Christi reden. Seither lassen wir uns auf kein verschriftlichtes Bekenntnis mehr verpflichten. «Selber denken, die Reformierten», so hiess vor 25 Jahren eine nicht unumstrittene Plakatkampagne einiger Deutschschweizer Kirchen. Und so denken und glauben wir alle nach unserer eigenen Fasson.

Das ist befreiend – aber auch isolierend. Es führt nämlich dazu, dass wir nicht mehr ringen und streiten um unseren Glauben. Sondern wir suchen uns einfach Gleichgesinnte und finden uns in den Filterblasen zusammen, die unsere Sprache sprechen, unsere Lieder singen, unser Gottesbild bedienen. Schön kuschelig hier. Und die anderen dürfen ja auch. Aber wie wäre es, wenn wir uns wieder einigen müssten darauf, was wir glauben und was nicht? Was wäre, wenn wir über die Grenzen von liberal, evangelikal, feministisch, postmodern und was sonst noch hinweg ein gemeinsames, verbindliches Glaubensbekenntnis formulieren müssten? Nicht für ewig. Aber für die nächsten zehn Jahre vielleicht? Es könnte sich lohnen. Nur schon um der Aha-Erlebnisse willen. Und erst recht um der Kirche willen.

Christina Aus der Au, Kirchenratspräsidentin der Evangelischen Landeskirche Thurgau

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