News aus dem Thurgau
Fokus: Schmerzen

«Es gibt kein Leben ohne Schmerz»

von Vera Rüttimann
min
17.04.2024
Akute und chronische Schmerzen kennt jeder von uns. Was drückt dem Menschen auf den Rücken? Leben religiöse Menschen gesünder? Kann Schmerz ein Lehrmeister sein? Was ist Biofeedback? Wolfgang Dumat, Psychologe, Psychotherapeut und Experte für chronische Schmerzen, hat Antworten auf diese Fragen.

Herr Dumat: Dank den medizinischen Erfolgen in der Schmerzbehandlung steht heute für viele das Leiden nicht mehr so stark im Zentrum. Hat dies unsere Perspektive als Mensch und Gesellschaft verändert?

Auf jeden Fall. Sei es durch die medizinischen Möglichkeiten oder durch unseren Lebensstil. Oder auch durch den Gebrauch von Drogen, wo Schmerz und Leiden ausgeschlossen werden sollen. Schmerz wird von der Mehrheit nicht als etwas Natürliches, was möglicherweise zur menschlichen Existenz gehört, gesehen. Dazu kommt: Wir treten mit dem Ukraine-Krieg und dem Klimawandel in ein Zeitalter ein, in dem der Wohlstand und der technische Fortschritt nicht mehr für alle reichen. Teile der Gesellschaft werden deutlich umlernen müssen.

Kann Schmerz auch ein Lehrmeister sein oder gar heilend wirken? Brauchen wir den Schmerz?

Das ist keine adäquate Frage: Wir haben den Schmerz! Der Schmerz ist Teil unserer Existenz. Er wird möglicherweise besser gelindert werden, er wird jedoch nicht verschwinden.

Inwieweit Schmerz ein Lehrmeister sein kann, das ist die grosse Frage in der Schmerzpsychotherapie. Ich erlebe immer wieder Menschen mit chronischen Schmerzen. Diese Betroffenen sollten lernen, ihr Alltagsverhalten und ihre Einstellung gegenüber den Schmerzen zu verändern. Dann wäre der Schmerz ein Lehrmeister. Es ist aber nicht so, dass man immer alles selbst bestimmen kann. Es gibt auch Schmerzen, denen man ausgeliefert ist, und dann braucht man eine gute medikamentöse Schmerzlinderung.

Wenn man Schmerz als Strafe Gottes empfindet, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Linderung kommt, eher gering.

Die christliche Ikonografie, vor allem auf den Kreuzwegen, stellt Jesus als Schmerzensmann dar, der das Leiden der Welt auf sich genommen hat. Dieser Gedanke war tröstlich. Hat der Schmerzensmann heute ausgedient?

Ich bin kein Christ. Ich habe jedoch in meiner Arbeit immer wieder erfahren, dass Patientinnen und Patienten, die fest im Glauben stehen, Trost und Linderung erfahren können. In unserer säkularen Welt aber, glaube ich, hat der Schmerzensmann tatsächlich ausgedient. Das ist nicht das, an dem sich möglicherweise noch christlich nennende Bürger orientieren. Sie orientieren sich an einem eher naturwissenschaftlichen Denken. Patienten sind ja oft erbost, wenn der Arzt den Schmerz nicht relativ schnell wegkriegt. Das führt zu Aggression und Widerstand. Das habe ich jeden Tag erlebt. Wenn der Schmerz nicht weggeht, sagen sich Patienten: «Der Arzt taugt nichts», und gehen zum nächsten. Oder der Patient denkt: «Der Arzt glaubt mir nicht.»

Wie wirken sich der Glaube und das Gottesbild auf die Genesung aus? Es gibt den beschützenden Gott und das Bild eines strafenden Gottes.

Ich denke, dass Menschen, die fest im Glauben sind und dadurch auf unterschiedlichen Ebenen psychisch-sozial in der Gemeinschaft Unterstützung erleben, gut bzw. besser genesen können. Studien belegen das. Zum strafenden Gott: Ich habe schon erlebt, dass Patienten sagen, diese Krankheit sei eine Strafe für dies oder das. Wenn man Schmerz als Strafe Gottes empfindet, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Linderung kommt, eher gering. Ein Schmerzpatient hat dann eine gute Chance zu einer Verbesserung, wenn er es schafft, seine eigenen Ressourcen, sein Umgang mit Schmerz, zu verbessern.

Menschen mit einer guten sozialen Unterstützung sind prozentual gesehen gesünder und stabiler.

Welche Rituale helfen, den Schmerz zu lindern? Yoga, Meditation oder das Gebet?

Schmerz ist ein Stressor. Deshalb ist es so wichtig, dass Schmerzpatienten immer wieder entspannen können. Das geht mit Entspannungsübungen. Das kann auch im Gebet sein oder indem man sich still in eine Kirchenbank setzt. Schmerzpatienten müssen lernen, Pausen zu machen und Aktivitäten zu unterbrechen. Ich selbst mache beispielsweise so gut wie jeden Morgen eine Stunde Yoga.

Der Volksmund sagt: «Geteiltes Leid ist halbes Leid.» Stimmt das? 

Ja, natürlich! Das ist das Phänomen der sozialen Unterstützung. Menschen mit einer guten sozialen Unterstützung sind prozentual gesehen gesünder und stabiler. Deshalb leben Verheiratete ja auch länger. Auch Haustiere helfen. (Lacht.)

 

Immer da: «Zu jedem Zeitpunkt haben zirka 30 Prozent der Bevölkerung Schmerzen». | Foto: Gonzales/Unsplash

Immer da: «Zu jedem Zeitpunkt haben zirka 30 Prozent der Bevölkerung Schmerzen». | Foto: Gonzales/Unsplash

 

Sie wenden bei Patienten auch Übungen aus der «positiven Psychologie» an. Wie sieht dies konkret aus?

Die Psychologie erforscht den ganzen Menschen und deswegen auch die positiven Seiten des Lebens. Es geht hier also nicht nur um die Frage «Wo bestehen Probleme, Stress oder psychische Erkrankungen?», sondern darum, was hilfreich und heilend ist. Da führen Patientinnen und Patienten beispielsweise abends so etwas wie ein Dankbarkeitstagebuch. Oder sie nehmen sich am Morgen bewusst etwas Positives vor und gehen in ihrem Lieblingspark eine halbe Stunde spazieren und denken nicht an ihren Schmerz. Der Ansatz der «positiven Psychologie» ist der Versuch, den positiven Aspekten des Lebens mehr Platz und Wichtigkeit zu geben.

Bei Betroffenen mit chronischen Schmerzen sind mehr Zellen im Gehirn mit der Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung aktiviert sind als bei Gesunden.

Forscher sprechen davon, dass man das Schmerzgedächtnis umprogrammieren kann. Was ist ein Schmerzgedächtnis überhaupt?

Das Wort Schmerzgedächtnis ist ein Laienbegriff. Er wurde geprägt, weil wir den Betroffenen damit am ehesten erklären können, was neurologisch im Gehirn von Schmerzpatienten passiert. Das nennt sich in der Fachsprache Neuroplastizität und bedeutet: Die Zellen im Gehirn können sich im Laufe eines Lebens durchaus verändern und anpassen. Bei Betroffenen mit chronischen Schmerzen bedeutet das, dass mehr Zellen im Gehirn mit der Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung aktiviert sind als bei Gesunden. Seit es MRT-Bilder gibt, wissen wir, dass das Gehirn dynamisch ist. Da kann man sehen, welche Areale im Gehirn bei welchen Aktivitäten und bei welchen Zuständen aktiv sind.

Können Sie Beispiele nennen?

Bei einem Musiker ist der Homunculus, der die Fingerbewegung steuert, grösser und aktiver als bei einem Nichtmusiker. Bei Schmerzpatienten können Sie sehen, dass die Areale, die man Schmerzgedächtnis genannt hat, stärker aktiviert sind. Da gibt es mehr neue Zellen, die sich intensiver mit dem sensorischen Reiz Schmerz beschäftigen. Und das tun diese Areale im Gehirn auch dann, wenn es keine erkennbaren organischen Ursachen für die Schmerzen gibt. Schmerz und seine Verarbeitung spielen sich also wesentlich im Gehirn ab.

Selbstoptimierung, Perfektionismus, die Schwierigkeit, Konflikte angemessen zu lösen – all diese Dinge machen einen grossen Anteil am seelischen Schmerz aus.

Welche Faktoren führen heute am meisten zu seelischem Schmerz?

Klare Antwort: Das ist die berufliche und die soziale Situation. Durch die Tatsache, dass man für seine Leistungen jeden Tag verantwortlich ist und darüber auch seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, lastet auf vielen Menschen hoher Druck. Der muss aber gar nicht real so sein. Viele Menschen erwarten sehr viel mehr von sich, als ihr Arbeitgeber es einfordert. Selbstoptimierung, Perfektionismus, die Schwierigkeit, Konflikte angemessen zu lösen, und fehlende soziale Unterstützung – all diese Dinge machen einen grossen Anteil am seelischen Schmerz aus.

Der Psychoanalytiker und Schriftsteller Arno Gruen sagte vor Jahren: «Schmerz kann die Basis einer empathischen Entwicklung sein. Ein Mensch, der Schmerzen empfindet, ist nicht gleich schwach.»
Wie sehen Sie das?

Schmerz hat kein gutes Image. Doch Schmerz ist etwas ganz Normales. Zu jedem Zeitpunkt haben zirka 30 Prozent der Bevölkerung Schmerzen. Ein Problem ist: Schmerz kann auch benutzt werden, um Problemen aus dem Weg zu gehen oder um bestimmte Dinge wie mehr Liebe oder Aufmerksamkeit zu erreichen.

Hans Holbein verarbeitete im 16. Jahrhundert in seinem Gemälde «Toter Christus im Grabe» die Erfahrung des Schmerzes für die christliche Heilsvorstellung. Was wäre die Kunst ohne Schmerz?

Ich bin grosser Kunstliebhaber und gehe oft in Museen und Galerien. Ich schätze die mittelalterliche religiös geprägte Kunst. Schmerz ist ein Motivator und ein Motor, ein Erlebnis zu verarbeiten. Wir versuchen, auch unseren Patienten eine angemessene Schmerzverarbeitung nahezubringen, die so wirksam ist, dass sie in ihrem Alltag eine gewisse Schmerzlinderung erleben.

Was wäre das Leben ohne Schmerzen?

Es gibt kein Leben ohne Schmerz.

 

Wolfgang Dumat ist Psychologe MA (Studium an der Freien Universität Berlin), psychologischer Psychotherapeut und Biofeedback-Therapeut. Er hat einige Jahre in deutschen orthopädischen und psychosomatischen Kliniken gearbeitet und war in den Neunzigerjahren vier Jahre im Manchester & Salford Pain Centre tätig – damals eine der international führenden Institutionen in der Behandlung chronischer unspezifischer Rückenschmerzen. Von 2004 bis 2017 war er Leitender Psychologe im Zentrum für Schmerzmedizin des Schweizer Paraplegiker-Zentrums in Nottwil/Luzern. Seit 2018 lebt er wieder in Berlin und hat dort über drei Jahre die Tagesklinik für Schmerzmedizin am Vivantes Wenckebach-Klinikum aufgebaut.

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