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«Eine gute Kirche hat eine Grosszügigkeit, selbst wenn sie klein ist»

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02.06.2021
Emanuel Christ gehört in der Schweiz zu den renommiertesten Architekten. Der Pfarrerssohn zur Kirchenumnutzung und warum es Kirchen weiterhin braucht.

Emanuel Christ, über Jahrhunderte bildeten die Kirchen die sakralen Zentren der Städte. Haben Spiritualität und Transzendenz im Zeitalter des verdichteten Bauens noch Platz?
Unbedingt, es braucht den Raum für Spiritualität, Ruhe und Konzentration, heute vielleicht mehr als in der jüngeren Vergangenheit. In diesem Sinne sollte die Stadtplanung Gebäuden wie den Kirchen mehr Gewicht beimessen. Selbst wenn sich die Bedeutung der Kirchen in der Gesellschaft verändert hat und sich verändern wird, haben die Menschen ein Bedürfnis nach Rückzug und Stille.

Sie sind in einer Pfarrfamilie aufgewachsen. Was hat Sie als Kind besonders in der Kirche beeindruckt?
Die Andersartigkeit des Raumes, die Grösse, die Lichtstimmung, die Konzentration und die Ausrichtung auf etwas, was sonst keine Präsenz hat. Auch wenn mir Kirchen sehr vertraut waren, erlebte ich, erlebte ich sie als eine Art Gegenwelt, im architektonischen wie im inhaltlichen Sinn.

Heute stehen einige Kirchen leer. Was halten Sie von deren Umnutzung?
Die Umnutzung ist wahrscheinlich notwendig. Ich habe da keine moralischen Vorbehalte. Es kommt jedoch darauf an, wie man die Kirchen umnutzt und wie ernst man ihre Architektur nimmt. Gerade bei historischen Kirchen mit ihrer erhabenen und monumentalen Architektur wird es schwierig, wenn sie für eine profane, alltägliche Nutzung verwendet werden. Solche Kirchen bieten Raum für kulturelles und musikalisches Schaffen. Während profane und bescheidene Kirchen durchaus einen neuen Verwendungszweck erfüllen können. Das ist kein Sakrileg. Und es gibt ja die Möglichkeit, dass das Religiöse und Profane nebeneinander in der Kirche stattfinden kann.

Viele Kirchgemeinden haben heute Schwierigkeiten, die Kosten für ihre historischen Gebäude zu tragen. Oftmals sind diese Kirchen die Wahrzeichen der Städte und Dörfer. Ist da der Staat vermehrt gefordert?
Diese politische Frage hängt auch mit der langen Geschichte der Verbindung von Kirche und Staat zusammen. Ich finde es richtig, dass der Staat die Kirchen in diesem Bereich unterstützt. Denn die historischen Kirchen werden auch von vielen benutzt, die keine Kirchenmitglieder sind. Wenn sich der Staat für den Erhalt der Baudenkmäler engagiert, ist es wichtig, dass er den Kirchen die Freiheit einräumt, diese Räume weiterhin zu nutzen.

Die historischen Kirchen sind gerade für den Tourismus wichtig.
Ja, aber man sollte für den Besuch der Kirche keinen Eintritt bezahlen müssen. Solche Inseln des Austauschs und der Besinnung sollten frei zugänglich sein, ausser es findet gerade eine Veranstaltung statt.

Heute stöhnen viele Kirchenbehörden darüber, dass ihre historischen Gebäude eine grosse Last darstellen. Sollte man nicht viel mehr die Chancen dieser Gebäude sehen?
Nicht alle Kirchen sind gleich wertvoll, sei es in ihrer Bedeutung, ihrer Geschichte oder ihrer architektonischen Qualität. Es gab eine Zeit in der Schweiz, in der man dringend Kirchen brauchte und diese rasch baute. Inzwischen hat sich das Umfeld verändert, sodass man aus diesen Gebäuden gut und gerne Quartierzentren oder Büros machen könnte. Andererseits gibt es Kirchen, egal ob jahrhundertealt oder jüngeren Datums, mit einem grossartigen Potenzial. Solche Räume können den Gemeinden Impulse geben, neue Formen zu entdecken. Ich denke da an die offenen Kirchen. Ich finde es wichtig, dass die Verantwortlichen die Nerven behalten und die Kirchen nicht allzu rasch preisgeben. Nicht nur aus der Sicht der Denkmalpflege, sondern aus der gesamtgesellschaftlichen. Kirchen sind Räume in den Städten und der Landschaft, die einem urmenschlichen Bedürfnis entsprechen.

Emanuel Christ, welche Kirchen in der Schweiz sollte man unbedingt besuchen?
Das Basler Münster mit seiner romanisch-gotischen Architektur und der Orgel von Peter Märkli. Dann die St.-Martins-Kirche in Zillis mit ihrer bemalten Decke aus dem 12. Jahrhundert und die katholische Pius-Kirche von Meggen mit ihrem durchschimmernden Marmor. Diese drei stehen für viele grossartige Kirchen.

Was zeichnet eine gute Kirche aus? Der Wow-Effekt?
Eine gute Kirche hat eine Grosszügigkeit, selbst wenn sie klein ist. Dies hat mit dem Licht zu tun. Eine gute Kirche schafft einen Kontrast zur unmittelbaren Umgebung. Man überschreitet eine Schwelle und betritt eine andere Welt, ohne dass sich der Raum ganz von der Welt abwendet. Eine Kirche verkörpert die Idee des Erhabenen und der Gemeinschaft. Sie ist in sich abgeschlossen, damit Transzendenz, Spiritualität und Konzentration entstehen. Gleichzeit braucht sie eine Offenheit, damit sich das Licht, die Proportionen des Raums und die Gemeinschaft entfalten können.

Und wie steht es mit den religiösen Symbolen, etwa den Heiligenfiguren?
Für mich als Protestant braucht dieser Raum keine starke Symbolik. Es ist der Raum selbst, die Proportionen, das Licht und die Schwelle, über die man schreitet, die den Charakter der Kirche formen. Deshalb ist es schwierig, eine gute Kirche umzunutzen. Kirchen sind keine Mehrzweckhallen.

Hätten Sie Lust, eine Kirche zu bauen?
Wenn man auf die Geschichte der Architektur schaut, ist der Bau einer Kirche eine der grossartigsten Aufgaben. Mein Traum ist jedoch, an einer der bestehenden Kirchen weiterzubauen. Es reizt mich, mich mit dem Bestehenden aus heutiger Sicht auseinanderzusetzen. Eine solche Interpretation fügt ein neues Kapitel hinzu. Heute errichtet man Kirchen oftmals weit weg in der Natur. Ich fände es interessanter, eine Kirche im städtischen Umfeld zu planen.

Werden in Zukunft weiterhin Kirchen gebaut?
Natürlich, der Kirchenbau wird sich weiterentwickeln, vielleicht mit neuen Typen.

Warum sind Sie sich da so sicher?
Unsere architektonische Welt wird wie viele Lebensbereiche immer einförmiger. Der Drang und Zwang zu Optimierung und Gleichmachung ist enorm. Da bilden die Kirchen als Architektur und Raum etwas Einzigartiges. Wenn ich alte Kirchen besuche, denke ich oft, es ist grossartig, wie eine Gemeinschaft sich in der Vergangenheit ein solches Gebäude und einen solchen Raum leistete und für notwendig hielt. In unserer individualisierten Gesellschaft kann man sich eine solche Architektur für die Gemeinschaft kaum noch vorstellen. Daran sollte man sich ab und zu erinnern.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online

Welche Chancen haben alte Kirchen?

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