«Ein guter Adventskalender muss die Sehnsucht fördern»
Zwischen glitzernden Schneeflocken, Tannenbäumen und verschneiten Landschaften tasten sich kleine Finger voran. Sieben. Fünfzehn. Ah, hier: Eins. Die erste Tür. Sie knackt leise beim Öffnen, als das Papier nachgibt und den Schatz dahinter enthüllt.
Es ist ein kurzer, aber magischer Moment, das Türchenöffnen am Adventskalender. Es ist ein Ausdruck der Vorfreude, der Ungeduld und der Hoffnung auf das Weihnachtsfest, sinnlich und kitschig zugleich. Bildchen, Schokolade, Nagellack, Sexspielzeug: Die Bandbreite des modernen Adventskalenders ist immens. Kaum etwas symbolisiert die Säkularisierung des Christentums so sehr, wie es der Adventskalender tut. Aber was steckt eigentlich hinter dem Brauch des täglichen Türchenöffnens? Und: Können uns Adventskalender trotz ihrer Kommerzialisierung den Weg zum Christkind zeigen?
Zeugnisse nachhaltiger Nutzung
Kaum jemand besitzt vermutlich so viele Adventskalender wie Fredi und Margrit Dünnenberger. Die beiden sammeln schon ihr ganzes Leben lang. Spielzeug, Grammofone, Rosenkränze, Weihnachtsschmuck – und seit rund 30 Jahren auch Weihnachtskalender. Die Adventskalender dokumentieren alte Bräuche und Werte. Im Haus der Dünnenbergers in Baar erwachen sie wieder zum Leben.
Da ist einer, der sich wie eine Pyramide aufstellen lässt und den man Adventssonntag für Adventssonntag auffalten kann, um ein kleines Gedicht zu lesen. Ein anderer zeigt ein grosses Haus mit 24 Fenstern. Hinter jedem ist nur ein rotes Papier, aber wenn alle Fenster auf sind, dann strahlt es warm aus dem Innern. Wieder einer hat ein Rad zwischen zwei Scheiben Karton versteckt. Dreht man daran, ändern sich die Figuren auf dem Baum, und zwei Zahlen erscheinen. Eine zeigt das Datum an, die andere zählt die Tage bis Weihnachten runter.
«Viele Adventskalender waren nicht günstig», meint Fredi Dünnenberger. Bei einem sehr alten Kalender habe man noch die Spuren des Klebebands gesehen, mit dem die Mutter die Türchen Jahr für Jahr wieder verschloss. «Leider habe ich die Klebespuren entfernt», sagt er. Das bedauere er nun, sei dieser Kalender doch ein «Zeugnis nachhaltiger Nutzung» gewesen.
Der Advent, ein Fest der Schwangerschaft
Die Geschichte des modernen Adventskalenders begann mit dem evangelischen Theologen Johann Hinrich Wichern im Jahr 1839. Wichern leitete das Wohnheim Rauhes Haus in Hamburg, das Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten und Lernschwierigkeiten aufnahm und ihnen die Möglichkeit bot, ein Handwerk zu lernen. Wichern stellte jeden Tag im Dezember eine Kerze auf ein Wagenrad, an jedem der Adventssonntage war es eine dickere. Damit wollte er den Kindern die Wartezeit bis Weihnachten verkürzen und schuf zugleich zwei neue Traditionen: den Adventskranz und den Adventskalender.
«Zu sagen, es gehe beim Adventskalender nur darum, das Warten zu verkürzen, wäre eine vereinfachte Darstellung», sagt Ralph Kunz, Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich. «Es geht vielmehr darum, eine Kultur des Erwartens zu etablieren. Solche Kalender sind der Versuch, das Kirchenjahr erlebbar zu machen», meint Kunz. «Im Grunde ist es ein Schwangerschaftsfest, denn wir feiern ja die Geburt von Christus. Mit dem Countdown fiebern wir einem Neuanfang entgegen.»
Religiöse Erziehungsmittel
Schon früh wurden Adventskalender also auch kommerzialisiert. 1903 veröffentlichte Gerhard Lang den Kalender «Im Lande des Christkinds», der aus zwei Papierbögen bestand: Auf dem einen waren 24 Bilder zum Ausschneiden gedruckt. Auf dem anderen waren 24 leere Felder, auf die die Bildchen geklebt werden konnten. Fredi Dünnenberger hat ein Exemplar bei sich zu Hause. Geklebt wird allerdings nur auf die Fotokopie!
«Die ersten Adventskalender waren sehr religiös behaftet», sagt Dünnenberger. So waren die Felder, auf welche die ausgeschnittenen Bilder geklebt werden sollten, keineswegs leer. Stattdessen waren sie mit kleinen Gedichten versehen. Damit diese mit dem Aufkleben der Bilder nicht verloren gingen, waren sie zusätzlich auf die Rückseite des Kalenders gedruckt.
«Eine deutsche Frau erzählte mir einmal, dass sie als Kind jeden Tag die Bibelsprüche in ihrem Kalender habe auswendig lernen müssen», sagt Dünnenberger. «Sie sei so neidisch gewesen auf ihre katholischen Freundinnen – die hatten hinter jedem Türchen ein schönes Bild und konnten sich einfach darüber freuen!»
Der Adventskalender war ein religiöses Erziehungsmittel. Gerade in reformierten Haushalten schätzte man sogenannte Verheissungskalender sehr. Im Gegensatz zum traditionellen Adventskalender, den wir heute kennen, hat der Verheissungskalender 28 Törchen und dauert bis zum 6. Januar an, der die Heiligen Drei Könige ehrt.
Zwischen den Weltkriegen: vom Fortschritt zur Nostalgie
Mit religiöser Bildung haben die meisten Adventskalender heute wenig am Hut. Allerdings, sagt Ralph Kunz, sei der Prozess der Säkularisierung nicht einer, der erst kürzlich eingetreten sei. «Man kann relativ genau benennen, dass dieser Prozess bereits in den 1920er-Jahren mit dem ‹Erika›-Kalender losging. Auf dem waren keine Tannenbäume oder Engel drauf, sondern Züge und Flugzeuge. Man hat die Schwangerschaft mit dem Fortschritt ersetzt.»
Der Erste Weltkrieg erschütterte das Religionsbewusstsein der Menschen und brachte ganz neue Werte mit sich. Dies wendete sich wiederum mit dem Zweiten Weltkrieg: «Ostdeutschland war immer schon das Zentrum der Kalenderproduktion», erklärt Kunz. «Man muss sich vorstellen: Verschiedene Weltmächte sind über die Region gefegt, ganze Städte wurden zerstört. In den 1950er-Jahren sehen wir ein Aufkommen von Idylle.» Schnee, Kleinstadt, Familie, Tannen, Tiere: «Es sind Kuschelbilder», fasst Kunz zusammen. «Diese Adventskalender zeigen eine Sehnsucht auf. Sie zeigen: Die Welt ist nicht einfach nur schlimm.»
Ein Licht von oben
Diese Nostalgisierung findet auch heute noch statt. «Wir sehen in den Medien fast täglich, was wir uns gerade selbst einbrocken», sagt Ralph Kunz, «und das macht nicht gerade viel Hoffnung. Wir sind dabei, unseren Zukunftsoptimismus zu verlieren, das macht uns auf Dauer seelisch krank.»
Adventskalender hätten die Aufgabe, ein Licht von oben zu sein, wenn wir mal wieder über unseren eigenen Schatten stolpern. «Ein guter Adventskalender», so Kunz, «müsste aber weniger die nostalgischen Gefühle bedienen, sondern eher die Sehnsucht nähren. Diese einzigartige christliche Hoffnung auf etwas, das kommt. Etwas, das wir erwarten, aber nicht selber erreichen.» Diese Hoffnung unterscheidet den Advent vom Futur. Denn für das Futur sind wir selbst verantwortlich. Der Advent ist etwas, das auf uns zukommt. Wie das Kind am Ende einer langen Schwangerschaft.
Das «Spielzeug Welten Museum Basel» zeigt noch bis zum 2. Februar 2025 die Ausstellung «Glitzernde Vorfreude – Ein Spaziergang durch den Adventskalender». Besucher können dort die Adventskalender von Fredi Dünnenberger und andere Exponate sehen.
Adventskalender der anderen Art – Drei Tipps
Der Tee-Adventskalender
Einfach 24 Beutel Ihrer Lieblingsteesorten an einer Schnur aufhängen. Bringt Behaglichkeit ins Wohnzimmer und lässt die beschenkte Person jeden Tag ein paar Minuten an Sie denken.
Jeden Tag eine gute Tat
Anstatt Schokolade Hilfe schenken. Vielleicht spenden Sie an einem Tag an die örtliche Tafel, sammeln am nächsten Plastikmüll auf dem Weg zum Bahnhof ein und engagieren sich freiwillig bei einem Event. Es ist erstaunlich, wie einfach es ist, jeden Tag etwas Nächstenliebe zu schenken.
Neue Orte entdecken
Besuchen Sie jeden Tag im Advent einen Ort, an dem Sie noch nie waren. Das kann ein Ausflug an einen Weihnachtsmarkt sein, das neue Adventsfenster der Nachbarin – oder ein Reisebericht im Fernsehen. Schliesslich handelt auch die Weihnachtsgeschichte vom Wandern – und Träumen!
«Ein guter Adventskalender muss die Sehnsucht fördern»