News aus dem Thurgau
Interview mit Pfarrer Frank Sachweh über sein Vorbild Dietrich Bonhoeffer

«Dummheit ist gefährlicher als Bosheit»

von Roman Salzmann
min
28.03.2025
Dietrich Bonhoeffer – Vorbild und «moderner Märtyrer»: Pfarrer Frank Sachweh erklärt, warum Bonhoeffer für ihn so prägend wurde.

Der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer, der kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 9. April 1945 vor genau 80 Jahren von den Nazis hingerichtet wurde, vermag mit seinem Leben und Wirken noch heute zu bewegen. Davon ist der Sulger Pfarrer Frank Sachweh überzeugt: Was bei ihm der Besuch der KZ-Gedenkstätte, wo Bonhoeffer ermordet wurde, alles auslöste.

 

Pfr. Frank Sachweh, was hat Sie vor allem motiviert, zur KZ-Gedenkstätte Flossenbürg zu reisen?

Sachweh: Zum einen, weil Bonhoeffer für mich seit der Studienzeit ein Vorbild ist und ich ein (schweres) Stück seines Weges ihm «nachgehen» wollte, im Bewusstsein, dass es für ihn natürlich viel schwerwiegender war als für mich.

Zum Zweiten, weil ich immer schon fand, dass der Besuch eines Konzentrationslagers für jeden Menschen eine Pflichtveranstaltung sein sollte. Mit vielen Konfirmandengruppen habe ich deswegen im Lauf meiner Berufsjahre die KZ-Gedenkstätte in Dachau besucht.

Wie haben Sie den Besuch persönlich erlebt?

KZ-Gedenkstätten wie Flossenbürg sind Mahnmale für unvorstellbares Leid und den grausamen und sinnlosen Tod von Millionen von Menschen. Sie stehen als Symbole des Bösen an sich; als Symbole einer Welt ohne Gott; als Symbole für entartete Religion, als Symbole für die Folgen von Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Faschismus, politischem Machtmissbrauch. Der Gang über das Gelände hat mich sehr traurig gemacht, aber ich will nicht so feige sein nicht hinzuschauen und ich will mich berühren lassen. Ein Gedenkstättenbesuch erdet und himmelt mich. Ich habe Menschen sehr gerne. Ich glaube, dass in jedem Menschen etwas Gutes ist. Aber genau darum muss ich auch immer wieder sehen, zu was der Mensch fähig ist, um mich zu erden. Gleichzeitig himmelt es mich, weil, wer diese Hölle gesehen hat weiss, dass es zum Guten, das Jesus Christus wie kein anderer repräsentiert, keine Alternative gibt. Und man erkennt, dass manchmal das einzige, auf das es ankommt, ist: Ein Stück von Gott in sich zu retten. (siehe Bonhoeffers Gebete im Todeslager wie «Von guten Mächten»)

Was bekamen/bekommen «Ihre» Kirchgängerinnen und -gänger von ihrem Flossenbürg-Besuch konkret mit? Hat Sie der Besuch zu besonderen Gesprächen oder Predigtaspekten inspiriert? Hatten Sie vielleicht neue Erkenntnisse oder wurden Sie in bestimmten Aspekten bestärkt?

Bestärkt wurde ich darin, dass mir einmal mehr bewusst wurde, dass so etwas nie wieder geschehen darf, und dass es an uns allen liegt, unsere Gesellschaft mitzugestalten. Wir sollten gut aufeinander achtgeben, damit Minderheiten nicht übersehen oder noch mehr benachteiligt werden. Weil sie die Sprache nicht können, weil sie Kinder sind oder krank oder weil sie das Geld nicht haben, um gesellschaftlich mithalten zu können. Die meisten Christen damals hatten es hingenommen, dass die Nazis auch in der Kirche das Sagen hatten, dass getaufte Juden aus der Kirche ausgeschlossen wurden. Dass auch in der Kirche Führer und Volk und Rasse über alles andere gingen. Ich habe nach meinem Aufenthalt in Flossenbürg über Lukas 5,1-11 gepredigt, wo Jesus die ersten Menschen auffordert, ihm nachzufolgen.  Jesus nachfolgen heute heisst, dass ich, wenn ich als Christ leben möchte, immer wieder meine Gewohnheiten überdenke. Dass ich vielleicht auch Nachteile in Kauf nehme. Dass ich mich ergreifen und hinterfragen lasse von einem Gott, der uns Menschen braucht, damit seine Botschaft in der Welt ankommen kann. Die Botschaft von einem gütigen und menschenfreundlichen Gott. Einem, der sich gerade der Schwachen annimmt. Und für den jeder Mensch zählt.

Eine neue Erkenntnis? – Vielleicht, dass ich wieder aufmerksamer geworden bin, wo Menschen heute Unrecht getan wird oder wo ich andere ungerecht behandle. Als Theologe glaube ich: Das Gewissen ist die Stimme Gottes. Wir müssen immer wieder herausfinden, wozu uns diese Stimme ruft.  Ich glaube tatsächlich, dass das wirklich im ganz, ganz Kleinen, Alltäglichen anfängt-immer sich zu hinterfragen: was kann ich dafür tun integer zu sein. Ich möchte nie ein Verräter des eigenen Gewissens sein. 

Was ist Bonhoeffer für Sie am ehesten? Widerstandskämpfer, Kämpfer des Glaubens, grosser Theologe, Vorbild als Prediger, Vorbild für Ökumene, oder…?

Bonhoeffer ist für mich Lebens- und Glaubensvorbild. Er hat Widerstand geleistet gegen das unmenschliche System des Dritten Reiches, weil er nicht tatenlos zusehen konnte, wie Gottes Wort missachtet wurde. Damals wurden jüdische Bürgerinnen und Bürger ausgegrenzt und verfolgt. Der Staat hat das angeordnet. Und die Kirche hat dazu geschwiegen. Kauft nicht bei Juden stand dann an jüdischen Geschäften geschrieben. So wurde die Bevölkerung aufgefordert, das Recht jüdischer Bürger mit Füßen zu treten. Für Bonhoeffer war klar, da dürfen Christen nicht mitmachen. Das ist doch gerade heute leider wieder ganz aktuell. So viele Länder sind auf dem Weg von einer Demokratie zu einer Diktatur, auch die USA. Überall erstarken rechtsradikale Parteien, Menschen- und Minderheitenrechte werden nicht geachtet, die Gewaltenteilung auch nicht. Viele Entwicklungen erinnern stark an Deutschland 1933 bis 1945, als sich Deutschland Schritt für Schritt (Hitler wurde demokratisch gewählt) von einer Demokratie in eine Diktatur verwandelt und den 2.WK begonnen hat. Da denken und sagen jetzt manche unter uns: Das ist ein politisches Thema, kein Thema für die Kirche. Bonhoeffer sagt das Gegenteil: «Das hätte nie passieren dürfen. Wir Deutschen, gerade auch wir Christen hätten dem deutlich und mutig entgegen treten müssen.» Bonhoeffer schreibt in seiner Ethik (Dietrich Bonhoeffer, Ethik, München 1949, S. 120.):  „Die Kirche bekennt, ihre Verkündigung von dem einen Gott, der sich in Jesus Christus … offenbart hat … nicht offen und deutlich genug ausgerichtet zu haben. Sie bekennt ihre Furchtsamkeit, ihr Abweichen, ihre gefährlichen Zugeständnisse. Sie hat ihr Wächteramt und ihr Trostamt oftmals verleugnet. Sie hat dadurch den Ausgestossenen und Verachteten die … Barmherzigkeit verweigert. Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie.» Auch unsere Kirche im Thurgau darf sich nie zu sehr mit sich selbst und auch nicht nur mit persönlichen Glaubensfragen beschäftigen, und wenn sie noch so sehr an gesellschaftlichem Einfluss verliert und wenn noch so viele Menschen austreten. Sie muss deutlich zu solchen Entwicklungen Stellung beziehen. Sie hat ein Wächteramt. «Sie ist nur dann Kirche, wenn sie Kirche für andere ist». (auch das ein Satz von Dietrich Bonhoeffer).

Wie beurteilen Sie Bonhoeffers geistliches Erbe möglichst «neutral», und welches sind heute noch die Chancen, wenn wir uns daran erinnern?

Sein geistliches Erbe besteht für mich vor allem in der Erkenntnis, dass der Glaube an den Gott der Bibel nie bloss ein innerliches Gefühl sein darf. Der Glaube setzt mich in Bewegung, weil ich darauf hoffen kann: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Wir können keine frommen Kirchenlieder singen und Gott im Himmel loben, wenn wir zu gesellschaftlichem, sozialem, politischem Unrecht schweigen. Ein gläubiger Christ ist für Bonhoeffer immer zugleich auch Zeitgenosse:

„Gott ist nicht zu erreichen auf dem Wege der Weltflucht. Wer sich von der Welt fernhält, findet „nie Gottes Welt, die in dieser Welt anbricht“ schreibt er 1932. Nähe zur Welt verwirklicht sich für ihn dabei nicht nur in diakonischem Handeln, nicht nur im Helfen und „Wunden verbinden“. So kommt er etwa 1940 zu der provozierenden Frage: “...hat die Kirche nur die Opfer aufzulesen oder muss sie dem Rad selbst in die Speichen greifen?“ (Ethik 342) Er selber hat sich dafür entschieden, „dem Rad in die Speichen zu greifen“ und sich der Widerstandsbewegung angeschlossen. Dahinter stand der Gedanke, dass ein Christ sich auch die Finger schmutzig machen muss, dass er sogar verzichten muss auf die Ruhe eines guten Gewissens. Wer Christ ist, kann sich nicht auf Prinzipien zurückziehen. Und so schreibt er im Gefängnis: „Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selber so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte... Später erfuhr ich es und erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt." (Ethik)

Und an anderer Stelle im selben Buch: „Ich habe in den letzten Jahren die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt.“ Nicht in einer Wunsch- und Jenseitswelt leben, nicht um sich selbst und seine Spiritualität kreisen, nein, so heisst es wörtlich weiter, „in der Fülle der Aufgaben, der Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, darauf kommt es an.»

Und, noch deutlicher: «Nicht der religiöse Akt macht den Christen sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben.»

Die Chance dieser Erkenntnis für unsere (Thurgauer) Kirche ist die, dass sie sich damit (noch) mehr an der Lebenswelt der Menschen gerade auch ausserhalb der Kirche, bis hin zu denen an den Rändern der Gesellschaft orientiert, genau hinschaut und zuhört und damit wieder viel relevanter wird.

„Wer nicht lange und geduldig zuhören kann, der wird am Andern immer vorbeireden und es selbst schliesslich gar nicht mehr merken.“ […] „Wer meint, seine Zeit sei zu kostbar, als dass er sie mit Zuhören verbringen dürfte, der wird nie wirklich Zeit haben für Gott und den Bruder, sondern immer für sich selbst, für seine eigenen Worte und Pläne.“ (Bonhoeffer, Ethik).

Was waren im Studium Ihre wichtigsten «Bonhoeffer-Erkenntnisse»?

Zwei sind es vor allem, beide auch wieder sehr aktuell.

Erstens: Bonhoeffers Gedanke, dass Dummheit gefährlicher als Bosheit ist. (er formuliert das wirklich so krass). Gegen Bosheit könne man protestieren oder sie notfalls mit Gewalt verhindern, gegen Dummheit aber sei wenig auszurichten. Dummheit ist kein angeborener Defekt, meint Bonhoeffer, sie wird erworben. Menschen werden dumm gemacht, beziehungsweise lassen sich dumm machen. Mir scheint: Dummheit und Verdummung führen auch heute wieder dazu, dass man dumpf-dreisten Parolen auf den Leim geht und Rechtsradikale immer mehr Zulauf bekommen. Das Drehbuch ist stets dasselbe: „Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen“, sagt Bonhoeffer. Viele fallen heute auf Falschmeldungen herein und verbreiten sie ungeprüft übers Netz. Mit Hass-Botschaften und Fake-News aufgefüttert, werden Feindbilder und absurde Fantasien in Umlauf gebracht. Dagegen setzt Bonhoeffer auf die Kraft des Glaubens. «Die Furcht Gottes ist der Weisheit Anfang»", zitiert er aus Psalm 111. Ich meine auch: Wer an Gott glaubt, der muss nicht lügen um seine Ziele zu erreichen und der entwickelt keine blöden Allmachtsfantasien, der orientiert sich vielmehr an der Aussage Jesu: „Der Größte unter euch soll euer Diener sein“ (Matthäus-Evangelium 23,11).

Zweitens: Entgegen der aktuellen Entwicklung war für Bonhoeffer der Pfarrer/die Pfarrerin höchst bedeutend für das Funktionieren einer Kirchgemeinde. Ähnlich wie bei einer Lehrperson steht und fällt vieles mit ihm/ihr. Ganz wichtig aber, und das hat Bonhoeffer jeden Morgen zelebriert bevor er in seinen Arbeitsalltag eingetaucht ist, jede Pfarrperson soll sich nicht gleich morgens bestimmen lassen von Sorgen, Plänen und Erwartungen. Bonhoeffer hat erstmal «nichts» gemacht, nur «sein Herz weit» Und hat mit Gottes Kraft in seiner Kraft gerechnet – und mit Gottes Segen über all den Dingen, die er tagsüber tun wollte.

Er hat einen Satz gesagt, der für mich seit dem Studium zu einer Art Meditationsübung geworden ist und der mir immer geholfen hat, gelassener, geduldiger, weniger besserwisserisch, gnädiger und freier zu arbeiten und zu sein. Der Satz lautet:

„An den Morgen eines Tages gehören nicht unsere Sorgen und nicht unsere Pläne
und nicht der Übereifer unserer Arbeit. An den Morgen eines Tages gehören
Gottes befreiende Gnade und Gottes segnende Nähe.“

Erkenntnisgewinn für mich aus diesem Satz:

Was mich trägt, ist nicht das Lob der anderen.
Was mich trägt, ist auch keine abgehakte To-do-Liste.
Was mich durch lange Arbeitstage tragen kann, das spielt sich in einer anderen Dimension ab. Tragend sind Gottes Kräfte, die da sind, bevor ich auch nur den ersten Punkt auf meiner jeweiligen Tagesliste abgehakt habe.

Unsere Empfehlungen

Geschichten – mehr als Unterhaltung

Geschichten – mehr als Unterhaltung

Was macht eine gute Geschichte aus und was hat Storytelling, also Geschichten erzählen, sogar mit kirchlicher Kommunikation zu tun? Warum sind spannende Geschichten so wichtig, um Glaubensbotschaften wirkungsvoll zu vermitteln? Fantasyautor Jyoti Guptara aus Weinfelden weiss warum.
«Notfallseelsorge ist immer hilfreich»

«Notfallseelsorge ist immer hilfreich»

Die Einsatzpolizei Schaffhausen meistert täglich herausfordernde Situationen. Gruppenleiter Daniel Müller berichtet über die wichtige Rolle der Notfallseelsorge sowie seine persönlichen Erfahrungen im Dienst.
Hunger stoppen mit Umweltschutz

Hunger stoppen mit Umweltschutz

Alle dreizehn Sekunden stirbt auf unserem Planeten ein Kind an Hunger. Gegen diese Ernährungskrise möchte sich die ökumenische Kampagne der beiden Hilfswerke Heks und «Fastenaktion» wehren. Doch was haben Bienenweidensamen damit zu tun?
Den Stresskiller aktivieren

Den Stresskiller aktivieren

Der Arbeitsalltag fordert oft einen hohen Tribut: Viele Leute leiden an Unruhe und Stress. Doch was, wenn es einen Nerv in unserem Gehirn gibt, der dem Alltagsstress entgegenwirken kann?