News aus dem Thurgau

Die Jagd nach Risiko und Ruhm

min
17.05.2017
Vor kurzem verunglückte Extrembergsteiger Ueli Steck tödlich. Der Bergführer und Pfarrer Philippe Woodtli ist ihm einige Male beim Klettern begegnet. Todesangst am Berg kennt er aus eigener Erfahrung. Im Interview spricht er über Todessehnsucht, Verantwortung und Freiheit beim Bergsteigen und die Nähe zu Gott auf dem Gipfel.

Philippe Woodtli, hat sich Ueli Steck bewusst in Lebensgefahr gebracht?
Nein, das glaube ich nicht. Er hat kurz vor  seiner letzten Expedition gesagt, das Risiko sei in einem vertretbaren Rahmen. Das sagen solche Menschen nicht einfach so. Sicher wurde er vom Absturz überrascht und hat dann realisiert, dass er jetzt stirbt. Man lebt noch ein Weile, wenn man 1000 Meter in die Tiefe fällt.

Ist es eine Art von Grössenwahn, das Schicksal derart herauszufordern?
Nein. Bergsteiger haben die Grössenverhältnisse immer vor Augen. Das führt eher zu Demut als zu Grössenwahn. Und Ueli Steck ist immer sehr bewusst mit Gefahren umgegangen.

Suchen manche die Todesangst, um das Leben besser zu spüren?
Wenn man den Eindruck hat, in Lebensgefahr zu sein, spürt man das Leben stärker. Ich glaube aber nicht, dass sich jemand in Lebensgefahr bringt, um das Leben besser zu spüren. Man weiss, dass beim Bergsteigen ein Risiko besteht. Aber man hat das Gefühl, dass sich dieses Risiko in einem akzeptablen und kontrollierbaren Rahmen bewegt.

Kennen Sie die Todesangst am Berg aus eigener Erfahrung?
Ja. In jungen Jahren hatte ich in gewissen Momenten grosse Angst. Wäre Panik daraus geworden, hätte ich wahrscheinlich nicht überlebt. 

Worin besteht dieses Risiko konkret?
Es besteht in der Gefahr, in absturzgefährdetem Gelände zu fallen. Wenn das passiert, stürzt man ab. Je nach dem wie sicher man auf den Füssen steht, ist das Risiko, dass man fällt, grösser oder kleiner. Ein Gelände, das für Sie gefährlich wäre, war für Ueli Steck nicht gefährlich. Es geht aber immer um Wahrscheinlichkeiten. Es gibt keine absolute Sicherheit.

Das klingt unberechenbar.
Sehen Sie, solange die Wahrscheinlichkeit, einen Unfall zu haben, weniger ist als 50 Prozent, ist es  einfach Pech, wenn man verunfallt. Ist die Wahrscheinlichkeit, dass man einen Unfall hat, höher als 50 Prozent, und man verunfallt nicht, ist es Glück. 

Wieviel Risiko nehmen Extrembergsteiger in Kauf?
Auch Extrembergsteiger gehen im Einzelfall nur ein kleines Risiko ein. In hundert Risikosituationen passiert in neunundneunzig Fällen nichts. Wenn das Gelände anspruchsvoll ist, muss man alles geben, damit das Risiko klein bleibt. Man muss sehr konzentriert sein. Das kann schwer sein, wenn das Wetter umschlägt oder die Sicht schlecht ist. Das löst Stress aus. Da reagiert der Körper sehr stark mit Adrenalin. Das ist ein Kick, der wie eine Droge einfährt. Das ist aber nicht der Normalfall.

Steckt hinter dem Suchen dieses Kicks nicht eine versteckte Todessehnsucht?
Weder glaube ich, dass Bergsteiger diesen Kick suchen, noch dass dahinter eine Todessehnsucht steht. Bei Extremisten ist Suizid zwar häufiger als bei anderen Menschen. Und Extrembergsteigen hat sicher eine gewalttätige Seite. Extrembergsteigen setzt Härte voraus, Konsequenz und eine grosse Entschiedenheit. Profibergsteiger gehen an 200 Tagen pro Jahr an den Fels. Man muss radikal sein, um das zu tun. Suizid ist eine radikale Gewalttätigkeit gegenüber sich selber und seiner Umgebung. Das Interessante beim Bergsteigen ist jedoch, an seine persönliche Grenze zu gehen, ohne dabei zu sterben. Man will seine Abenteuer überleben.

Worin besteht der Antrieb beim Bergsteigen?
In der Befriedigung, wenn man es geschafft hat, rauf und wieder runter zu kommen. Man hat sich einer Aufgabe gestellt und sich als kompetent erlebt. Ein anderer grosser Antrieb ist die Anerkennung für eine bestimmte Leistung in der Bergsteigerszene. Da geht es um Ruhm und Ehre. Ganz wichtig ist auch, dass Berge ein Raum sind für Freiheit. Deshalb ist Bergsteigen interessant für Leute, die Freiheit suchen.

Worin besteht diese Freiheit?
Darin, eine bestimmte Route zu wählen und die dann so zu gehen, wie man will. Man muss niemanden um Erlaubnis fragen und kann sich dabei austoben. Man darf auch sein Leben riskieren.

Darf man so leichtfertig mit dem Leben umgehen?
Das Leben kommt von Gott und geht zu Gott zurück. Wir sind aufgefordert, etwas daraus zu machen. Darin hat auch Bergsteigen Platz. Wenn ich das Risiko eingehe, dass mein Leben früher enden könnte, habe ich das in erster Linie meinen Angehörigen gegenüber zu verantworten.

Was kann Angehörige trösten, die jemanden beim Bergsteigen verloren haben?
Vielleicht der Gedanke, dass jemand bei einer Tätigkeit starb, die ihn erfüllt hatte. Wichtig ist, dass Bergsteiger und ihre Angehörigen über die Risiken miteinander sprechen und sich darüber einig werden, welche eingegangen werden dürfen.

Wie halten Sie das persönlich?
Ich gehe heute anders in die Berge als früher. Ich fände es heute sehr egoistisch, einen Unfall nur als mein persönliches Problem zu betrachten.

Sind Sie Gott auf einem Gipfel näher?
Ja und Nein. Als ich noch jünger war, hatte ich manchmal das Gefühl, beim Bergsteigen zu lernen «wo Gott hockt» auf gut Berndeutsch ausgedrückt. Damit meine ich nicht ein Gotteserlebnis wie Moses es hatte. Ich meine damit das Gespür für die eigene Grösse, die relativ klein ist im Vergleich mit einem Berg.

Hat Bergsteigen etwas Meditatives?
In gewisser Weise schon. Man kann beim Bergsteigen in einen Flow geraten. Das Bergsteigen ist aber trotzdem keine meditative Praxis. Dazu ist es zu anstrengend. Aber es gibt Momente, in denen man die alltäglichen Sorgen vergisst. Wirklich schöne Momente gibt es auch. Wenn man am frühen Morgen sieht, wie die Sonne aufgeht über dem Horizont. 

Sie sind seit 36 Jahren Bergsteiger. Beeindruckt Sie das noch?
Ja, die Natur bleibt eindrücklich. Was man sehr stark spürt in den Bergen sind die Naturgewalten. Das Wetter kann innerhalb von Minuten vom blauen Himmel zum Sturm wechseln. 

Sehen Sie Gott in dieser grossartigen Natur?
Nein, ich bin nicht naturreligiös. Auch wenn das Erleben der mächtigen Berge zu einer gewissen Demut führt. Bei existenziellen Fragen greife ich auf die Bibel zurück, auf Psalmen, auf die Geschichten von Abraham und Hiob. Da finde ich Trost.

Sehen Sie in den Bergen Gottes Schöpfung?
In den Bergen gibt es nichts Menschengemachtes. Dadurch kommt man in den Bergen näher an die Schöpfung als im zivilisierten Leben. Ich glaube aber nicht, dass man ohne biblischen oder religiösen Hintergrund auf diesen Gedanken kommt.

Ist Bergsteigen religiös?
Nein, meiner Meinung nach ist es das nicht. Die allermeisten Bergsteiger sind damit beschäftigt, heil auf den Berg hinauf und wieder hinunter zu kommen. Zwar kommt das Heil von Gott, trotzdem ist Bergsteigen keine religiöse Praxis.

Adriana Schneider / Kirchenbote / 17. Mai 2017

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Unsere Empfehlungen

U33 und die Gretchenfrage zur Religion

U33 und die Gretchenfrage zur Religion

Pünktlich zu Ostern hat die Schweizer Illustrierte SI in Zusammenarbeit mit den Landeskirchen eine Sonderbeilage zum Thema Kirche und Jugend herausgegeben. Die SI stellt dabei die Gretchenfrage, was junge Menschen unter 33 Jahren heute mit dem christlichen Glauben und der Kirche verbindet.
Auf den Spuren des Nazareners

Auf den Spuren des Nazareners

An Ostern feiert die Christenheit die Auferstehung Jesu Christi. Die Evangelien berichten, dass Jesus aus Nazaret während dreier Jahre predigte und Wunder tat. Sein Auftritt veränderte die Geschichte der Menschheit und fasziniert bis heute. Aber wer war dieser Nazarener wirklich?
Die Offenbarung ist kein Fahrplan für den Weltuntergang

Die Offenbarung ist kein Fahrplan für den Weltuntergang

Apokalyptische Reiter verbreiten Angst und Schrecken, Tod und Teufel werden in einen Feuersee geworfen – wer das letzte Buch der Bibel liest, dem kann angst und bange werden. Coronavirus, Ukrainekrieg, Klimaerwärmung – die Offenbarung des Johannes wird auf alles Mögliche angewendet.
Frauen mit einem abenteuerlichen Herzen

Frauen mit einem abenteuerlichen Herzen

170 Jahre nach der Gründung des Diakonissenhauses Riehen beleuchtet eine Ausstellung mit Fotos und Texten die Geschichte der Kommunität. Sr. Delia Klingler lebt seit 2017 als Schwester hier. Der Kirchenbote hat mit ihr die Ausstellung besucht.