«Die Demokratie ist bedroht, wenn Bürger sie nicht mehr mit Leben füllen»
Herr Bundespräsident, Ihr jüngstes Buch trägt den Titel «Erschütterungen». Wie sehr erschüttern Sie die Entwicklungen in Europa und der Welt?
Unsere liberale Demokratie, die wir in den letzten Jahrzehnten wohl als zu selbstverständlich erachtet haben, ist derzeit einer doppelten Bedrohung ausgesetzt. Da ist einerseits die Bedrohung von aussen seitens des imperialen russischen Nachbarn, der das völkerrechtliche Gewaltverbot missachtet, und andererseits die Bedrohung von innen seitens autoritärer, populistischer Kräfte, die den Pluralismus und die Rechtsstaatlichkeit infrage stellen. Offensichtlich bedurfte es erst tiefgreifender Erschütterungen, damit wir uns diesen Gefahren stellen, die beide letztlich demselben Motiv entspringen: einer Ablehnung der Moderne, einer Gegnerschaft zur liberalen Demokratie.
Ihr Thema sind die Demokratien, die heute unter Druck stehen. Nach dem Fall der Mauer hatten wir alle die Hoffnung und Vorstellung, dass die Welt jetzt besser und demokratischer wird. Warum sieht es Jahrzehnte später anders aus?
Die Welt verändert sich rasant, sodass ein Anpassungsdruck für unsere Gemeinwesen entstanden ist. Unsere liberale Demokratie – und mit ihr der Westen insgesamt – hat sich auch darum zu bemühen, aus Versäumnissen und Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Dazu ist es erforderlich, sich einigen unbequemen Fragen zu stellen: Warum haben wir die Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch Russland und die territoriale Unterwerfung eines demokratischen Staates in Europa nicht kommen sehen? Warum haben wir zu lange und zu naiv allein auf Diplomatie und «Wandel durch Handel» gesetzt? Und wäre unsere Gesellschaft überhaupt bereit, die liberale Demokratie notfalls mit Entschlossenheit zu verteidigen? Entsprechend selbstkritisch gilt es den Zustand unserer Demokratie im Innern zu betrachten: Sind wir uns dessen ausreichend bewusst, wie schnell etwa demokratische Institutionen – ganz legal – um ihre Unabhängigkeit gebracht und für illiberale Ziele missbraucht werden können? Warum kommt es zu Polarisierung und Radikalisierung? Haben die liberalen Kräfte genügend Widerstandskraft, um den Illiberalen den Wind aus den Segeln zu nehmen? Wissen wir Bürger überhaupt zu schätzen, was uns Freiheit und Wohlstand sichert?
Joachim Gauck
Joachim Gauck, geboren 1940 in Rostock, arbeitete dort bis 1989 als Pastor. Er war Mitinitiator des Widerstandes gegen die SED-Diktatur, Abgeordneter der ersten freien Volkskammer und von 1990 bis 2000 Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Von 2012 bis 2017 amtete er als elfter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.
Warum sind Populisten und Autokraten so attraktiv? Nur an den einfachen Botschaften kann es nicht liegen.
In Deutschland teilen wir die Sorge vor einer nationalistisch-populistischen Bewegung mit ganz Europa. Aber wir sind Teil einer Entwicklung in Europa, in dem bis zu einem Drittel der Gesellschaft eigentlich wünscht, es möge so sein wie früher. Da sind auch Nazis und Spinner darunter, aber auch Menschen, denen die Welt nicht mehr vertraut genug ist, sondern zu offen, zu liberal, zu fragil, zu problembehaftet, zu krisenbehaftet. Und dann entstehen Ängste, etwa vor zu grossen Veränderungen, die mit Migrationsbewegungen gleichgesetzt werden. Wir werden lernen müssen, damit zu leben, und zwar ohne dass wir nun vor lauter Furcht in Panik geraten. Wir haben eine demokratische Mitte, die, anders als im Deutschland zwischen den Weltkriegen, stabil ist. Und deshalb wollen wir uns nicht gegenseitig in Angst und Schrecken versetzen, wenn es gelegentlich Wahlerfolge gibt für eine Partei, deren Gestus mir fremd ist, deren Inhalte ich zutiefst ablehne und deren Zukunftsangebote nicht nur äusserst defizitär, sondern fatal für unser Land und unseren Wirtschaftsstandort wären.
Auch wenn Europa säkularer wird, prägen christliche Überzeugungen wie die, dass alle Menschen Kinder Gottes sind oder dass man solidarisch sein soll, bis heute die Gesellschaft. Wie wichtig sind diese für eine Demokratie? Und wer vermittelt sie, wenn die Kirchen weiter an Bedeutung verlieren?
Die aus dem Glauben erwachsene Überzeugung der Gleichheit aller Menschen hat für unsere Gesellschaft etwas sehr Heilsames. Kirchen können über den Glauben an Gott einen Halt vermitteln, wie es unsere Lebensumstände nicht oder nur noch unzureichend schaffen. Die Botschaft Jesu Christi, insbesondere die der Nächstenliebe und der Bezogenheit der Menschen zu- und aufeinander, ist heute wichtiger denn je. Dabei sind die Kirchen nicht ausgenommen von Veränderungsdruck und müssen sich und ihre Arbeit gelegentlich selbst hinterfragen und anpassen.
Kirchen engagieren sich für Flüchtlinge und Asylsuchende. Wie viel Zuwanderung verträgt eine Demokratie?
Ich habe auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 folgende Sätze gesagt: «Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich. Unser Asyl- und Flüchtlingsrecht bemisst sich nicht nach Zahlen, und doch wissen wir, unsere Aufnahmekapazität ist begrenzt, auch wenn wir nicht genau wissen, wo die Grenzen liegen.» Für mich gelten diese Feststellungen weiterhin. Es ist die Aufgabe von Politik und Gesellschaft in der liberalen Demokratie, diese Fragen offen zu erörtern und dann Entscheidungen zu treffen, die auf einer guten Abwägung beruhen.
Der christliche Glaube fragt nach der Wahrheit und dem wahren Leben. Das Netz mit all seinen Meinungen und Fakes antwortet wie Pilatus: «Was ist Wahrheit?» Bedroht diese subjektive Sicht der Dinge nicht letztlich die Grundlage jeder Diskussion?
In diktatorischen Systemen werden unliebsame Tatsachen bedenkenlos gefälscht und unterdrückt, in der liberalen Demokratie werden sie gelegentlich als reine Meinungsäusserung abgetan, um ihre Wirkmacht zu beeinträchtigen. Ich bin in dieser Hinsicht ganz bei Hannah Arendt, die einen politischen und moralischen «Orientierungssinn» für die Gesellschaft postuliert hat, der sich nur auf Grundlage von gemeinsamen Tatsachenwahrheiten bilden kann.
Letztes Jahr feierte die Schweiz 175 Jahre Bundesverfassung und damit die Geburtsstunde der neuen Demokratie. Ist die Schweizer Demokratie stabiler? Wenn ja, warum?
Aus meiner Sicht ist das Modell der Schweiz so beeindruckend, weil es gelungen ist, eine stabile Demokratie trotz der Verschiedenheit der Bürger zu errichten. Trotz unterschiedlicher Sprachen und Glaubensrichtungen ist eine Tradition demokratischer Gepflogenheiten entstanden, die immer wieder Mehrheiten für die Demokratie hervorbrachte. Als Deutscher blicke ich voller Bewunderung auf eine Nationalgeschichte ohne Diktatur. Es konnte ein Bürgerbewusstsein entstehen, ohne eine Wertebasis ist so etwas schwer vorstellbar.
Sie waren in Rostock am Widerstand und an der friedlichen Revolution in der DDR beteiligt. Was haben Sie aus dieser Zeit gelernt?
Wir dürfen niemals vergessen, dass unsere Demokratie nicht nur bedroht ist von Extremisten, Fanatikern und Ideologen, sondern dass sie ausgehöhlt werden und ausdörren kann, wenn die Bürger im Land sie nicht mit Leben füllen. Einfach ist es nicht, ist es nie, das Prinzip Verantwortung nicht nur im eigenen engeren Lebensbereich zu praktizieren, sondern auch in der erweiterten gesellschaftlichen, in der europäischen oder gar globalen Dimension. Aber war es je einfach, der Freiheit und dem Recht zum Sieg zu verhelfen? Im Wissen um die friedliche Revolution und die deutsche Einheit 1989/90 kann ich heute sagen: Wir können das, wenn unsere Ängste nicht das letzte Wort haben und wir an uns und unsere Werte glauben.
Sie waren von 1990 bis 2020 auch Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Haben die Akten Ihr Menschenbild geprägt? Was ist für Sie der Mensch?
Mein Menschenbild war schon vor der Aktenöffnung realistisch: Menschen sind fähig zu Niedertracht wie zu Güte – wir alle erfahren es in unserem Leben, und die Bibel weiss an vielen Stellen davon zu berichten.
Gibt es einen Bibelspruch, der Sie im Leben begleitet hat?
Sicher, mehrere, zum Beispiel aus dem Neuen Testament das Jesuswort: «Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.»
Gesprächsabend mit Joachim Gauck
«Politische Erschütterungen – über Gefährdungen liberaler Demokratien»: Unter diesem Titel begrüssen Hans-Peter Schreiber und alt Ständerätin Christine Egerszegi den deutschen alt Bundespräsidenten Joachim Gauck am Donnerstag, 8. Februar zum Gesprächsabend in der Offenen Kirche Elisabethen Basel. Das Gespräch steht im Kontext weltweit immer weiter um sich greifender autoritärer Regime. Der Fokus richtet sich auf die Gefährdungen liberaler Demokratien: Bedrohungen durch Rechtspopulismus, Infragestellung der Rechtsstaatlichkeit, Begrenzung von Bürgerrechten oder Aufhebung der Gewaltenteilung im Staat.
Hinweis: Der Anlass ist ausverkauft.
«Die Demokratie ist bedroht, wenn Bürger sie nicht mehr mit Leben füllen»