Die Banalität der Bomben
Auf den Mobiltelefonen vermelden Pushmeldungen Bombeneinschläge wie Tore im Liveticker über ein Fussballspiel. Nur geht es bei diesen Meldungen nicht um einen harmlosen Lederball, sondern um Schrapnellen, Brandbomben und Raketen, die grausame Löcher in Wohnhäuser, Spitäler, in Theater und in Bahnstationen reissen. Als das Theater in Mariupol von einer russischen Bombe getroffen wurde und all die Menschen tötete, die im Theater Schutz gesucht hatten, sahen die Pushmeldungen nicht anders aus als die Meldungen über das Halloween-Kostüm von Heidi Klum. Das ist die schreckliche Banalisierung der Bomben.
Diese «Banalisierung der Bomben» ist nicht nur sprachlich nahe an der «Banalisierung des Bösen», einem Ausdruck, den Hannah Arendt geprägt hat: Während des Prozesses gegen Adolf Eichmann beobachtete sie, dass Eichmann weder ein fanatischer Ideologe noch ein psychopathischer Täter war, sondern ein pflichtbewusster Bürokrat, der sich auf die Ausführung von Befehlen konzentrierte, ohne dabei über die moralischen Konsequenzen seines Handelns nachzudenken. Hannah Arendt beschrieb das Böse in diesem Fall deshalb als «banal», weil es keine ideologische Ursache hatte und weil keine aussergewöhnliche Boshaftigkeit dahinterstand.
Die Situation im Mittleren Osten, die politische Situation in Israel, in Palästina oder im Libanon ist keineswegs «banal» in diesem Sinn. Im Gegenteil ist das Problem, dass die Konflikte ideologisch extrem aufgeladen sind.
Zur Banalität werden die komplexen Konflikte und das unermessliche menschliche Leid auf unseren Bildschirmen, weil auch die grösste Katastrophe von digitalen Medien handwerklich perfekt vereinnahmt wird, um unsere Aufmerksamkeit zu erheischen. Das hat die schlimmste Konsequenz zur Folge, die wir uns vorstellen können: Wir stumpfen ab.
Wer könnte Verantwortung übernehmen, damit die Bomben nicht der Banalität anheimfallen? Zuallererst, natürlich, die Medien. Sie müssen sich verabschieden vom grossen Kampf um Aufmerksamkeit. Aber auch die Nutzerinnen und Nutzer müssen Verantwortung übernehmen. Wenn wir die Banalität der Bombenmeldungen brechen wollen, müssen wir hinter Zahlen und Schlagzeilen blicken und uns mit den Menschen konfrontieren. Mit Palästinensern und Israelis, mit Ukrainern und Russen. Nein, das ist nicht einfach und banal schon gar nicht. Aber genau darum geht es ja.
Matthias Zehnder
Matthias Zehnder ist Medienwissenschaftler und Publizist mit Schwerpunktgebiet Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, publiziert und hält Vorträge und Seminare rund um Computer, Geist und Ethik.
Die Banalität der Bomben