Der Weg der Glaubensfreiheit
Den Anfang des Weges findet man am besten, wenn man beim reformierten Kirchgemeindehaus «Trülli» startet, die Hauptstrasse überquert und an den Schrebergärten entlanggeht. Diese Route mündet ein in den Hugenotten- und Waldenserweg, der nach Thayngen führt. Vor und 330 Jahren war Herblingen Durchgangsort für Tausende Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und dem Piemont. «Im Jahr 1688 herrschte hier ein grosses Flüchtlingselend, 9000 Menschen kamen nach Schaffhausen, die verarztet und für die Weiterreise ausgerüstet werden mussten», erzählt Doris Brodbeck, Präsidentin des «Hugenotten- und Waldenserwegs Aarau-Zürich-Schaffhausen», die mich auf meiner heutigen Spurensuche begleitet.
Wilde Romantik
Wir lassen die Schrebergärten hinter uns und biegen in den Wald ein. Hier wirkt die Natur ursprünglich und ungezähmt. Durch sattes Grün spiegeln sich kleine Weiher, Vögel zwitschern fröhlich durcheinander. Die Szenerie hat etwas märchenhaft Verwunschenes, und ich bin versucht, mir das Lagern hier romantisch vorzustellen. «Die eigentliche Fluchtroute führte über die heutige Hauptstrasse weiter unten. Wir befinden uns deshalb hier auf einem Erinnerungsweg», unterbricht Doris Brodbeck meine Gedanken und fügt an, «er soll dazu inspirieren, über die Glaubensfreiheit nachzudenken und was es bedeutet, auf der Flucht zu sein.»
Wurzeln und Holzbirnen
Vor unseren Augen lichtet sich nun der Wald, und wir gelangen auf das freie Feld. Ein Wind kommt auf, und die Weite tut gut, während wir das Feld hinter uns lassen und die Strasse überqueren, den gelben Wanderwegschildern folgend. Wieder säumen üppige Pflanzen unseren Weg, und zwischen ihren Blüten tanzen bunte Schmetterlinge, die geduldig ausharren, während ich sie mit meiner Kamera ins Visier nehme.
Nach einer weiteren Lichtung biegen wir rechts in ein steiles Tobel. Der schmale Weg schlängelt sich durch Bäume bis unten ein Rastplatz sichtbar wird, das «Langloch». Eine Gedenktafel erinnert an die Glaubensflüchtlinge, die hier gelagert haben. Nachdem am 24. September 1688 die französischen Truppen in der Pfalz eingefallen waren, flüchteten die Waldenser aus dem süddeutschen Raum zurück nach Schaffhausen. «Doch hier wollte man ein Exempel statuieren und liess sie nicht ein. 1500 Männer, Frauen und Kinder lagerten in kläglichem Zustand im Wald und ernährten sich von Wurzeln und Holzbirnen», erklärt Doris Brodbeck.
Der Stadtschreiber Johannes Speissegger konnte schliesslich das Mitleid seines Zürcher Kollegen gewinnen, indem er ihn einlud, das Elend im Herblinger Wald zu besichtigen. «Daraufhin wurden alle im Kloster Allerheiligen versammelt und für den Winter auf die evangelischen Orte verteilt.»
Pfade, die sich kreuzen
Wir rasten kurz auf den Bänken um die einzige Feuerstelle auf dem Erinnerungsweg. Dann geht es weiter Richtung «Kurzloch», und hier verändert sich die Umgebung erneut. Wir kommen am Waldkindergarten vorbei, der bunt und niedlich wirkt, bevor sich schroffe Felswände erheben, die den Steinzeitpfad «Thayngen-Kurzloch» ankündigen.
Wir klettern steile Treppenstufen hinab und betreten einen kurzen Pfad, der aus dem Wald führt. Vor uns liegt das Dorf Thayngen. Während wir der Biber entlang darauf zugehen, erzählt mir Doris Brodbeck noch eine Episode aus Herblingen: «An Ostern 1699 hatten Rückkehrer in die Waldensertäler erneut die Heimat verlassen müssen und den Winter bei den Eidgenossen verbracht. Sie waren bereits zur Abreise gerüstet. Doch vorher feierte der Pfarrer der «Eglise française», Claude Clauzel, in Herblingen und Thayngen mit den Flüchtlingen den Ostergottesdienst.»
Das damalige Gotteshaus in Herblingen liegt direkt unterhalb der heutigen Kirche. Just an dem Punkt, an dem unsere heutige Wanderung auf den Spuren der Hugenotten und Waldenser begonnen hatte.
Text und Fotos: Adriana Di Cesare, kirchenbote-online.ch
Der Kirchenbote stellt in seiner Sommerserie in den kommenden Wochen die wichtigsten spirituellen Wege der Schweiz vor.
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