News aus dem Thurgau
Sommerserie Kindergeschichten

Der Schuhschnabel

von Tilmann Zuber
min
06.08.2024
Dass Kinder Hunde, Katzen und Meerschweinchen lieben, ist verständlich. Doch einen hässlichen Vogel, der sich kaum rührt? In der vierten Kindergeschichte unserer Sommerserie erzählt Kirchenbote-Chefredaktor Tilmann Zuber, warum für Frederic ausgerechnet dieser Vogel wichtig wurde.

War es Liebe auf den ersten Blick?

Frederic weiss es heute nicht mehr. Er erinnert sich lediglich, wie er mit seiner Klasse erstmals den Zoo besuchte. Er musste ungefähr sieben Jahre alt gewesen sein. Vielleicht auch acht. Beschwören kann er dies heute nicht mehr.

Der Tag war trüb, so trüb wie seine Stimmung, als er morgens früh aufstehen musste. Missmutig schlurfte Frederic in die Küche, wo die Mutter in ihrem hellblauen, abgetragenen Morgenmantel am Tisch sass und die Butter dick auf die Brote strich. Sie blickte kurz auf, und meinte, es sei doch schön, dass er heute in den Zoo gehen könne. Das hellte Frederics Stimmung nicht auf.

Später traf sich die Klasse vor dem Schule. Es hatte angefangen zu nieseln, als Frederic müde, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, darauf wartete, bis auch die letzten daher zottelten. Dann ging es ab zum kleinen Bahnhof, wo der Zug sie in die Stadt brachte.

 

Als die Klasse im Zoo ankam, stürmten die ersten los zum Affenhaus. Sie wollten das Herumtollen der Affen nicht verpassen. Der Grossteil der Klasse zog jedoch zum Raubtiergehege weiter. Sie hofften auf die Fütterung der Tiere. Ein Schauer lief ihnen jeweils über den Rücken, wenn die mächtigen Tiere ihre Zähne und Pranken tief in das rohe Fleisch bohrten und es gierig verschlangen.

Frederic blieb allein zurück. Er sah sich ratlos um und beschloss, gemütlich durch die Anlage zu schlendern. Schliesslich blieb er vor dem Vogelhaus stehen. Neugierig stiess er die schwere Türe auf und tauchte ein in die feuchte Hitze und den beissenden Geruch von Vogelkot.

Langsam streifte er den riesigen Scheiben entlang, hinter denen prächtige Papageien und anderes Gefieder sassen, bis er in der hintersten Ecke auf ein seltsames Wesen stiess. Auf einen Vogel, der aussah wie ein fetter Storch, nur der Schnabel wollte nicht zu einem Storch passen. Es sah aus, als hätte sich der Vogel einen abgetragenen Damenschuh übergestülpt, den er nicht mehr loswurde. Das Tier hatte etwas Urtümliches und Geheimnisvolles, als stamme es aus einer Zeit lange vor der unsrigen.

 

Tilmann Zuber ist Journalist und Chefredaktor des Kirchenboten. Kurzgeschichten von ihm erschienen unter anderem in «Schöne Bescherung» oder «Eiertanz», Theologischer Verlag Zürich.

 

Der Vogel stand da in seiner kleinen Welt aus einem winzigen, trüben Teich, umgeben von spärlichem Bambus, und bewegte sich nicht. Seine Augen waren geschlossen. Frederic legte seine Hand an das Glas. Der Vogel rührte sich nicht. Er fing an, an die Scheibe zu klopfen, erst zaghaft und dann heftiger. Der Vogel blieb regungslos.

Aus irgendeinem Grund, den sich Frederic nicht erklären konnte, beschloss er zu warten, bis sich der Vogel bewegte. Das war eigentlich idiotisch, meint er heute. Aber damals setzte sich Frederic vor die Scheibe und wartete, dass sich der Vogel rühren würde. Wenigstens ein bisschen, ein winziges kleines Zucken mit den langen Beinen oder ein Nicken mit dem Kopf. Doch nichts geschah.

Um die Zeit zu überbrücken, begann Frederic dem Vogel aus seinem Leben zu erzählen, zunächst nur zaghaft, mit langen Pausen, mit der Zeit wurden die Fäden seiner Erzählungen länger und bunter. Immer wieder fiel ihm etwas Neues ein, das ihm auf der Seele lag.

Frederic merkte nicht, wie die Zeit in der feuchten Hitze des Vogelhauses verging, als plötzlich Joe hinter ihm stand und rief: «Hey! Wir warten schon lange auf dich, wir wollen zurück.» Dann sah Joe, der eigentlich Johann hiess, den Namen aber hasste, den seltsamen Vogel und meinte: «Der tut ja gar nichts. Der ist ja sowas von dumm!»

 

«Der ist ja sowas von dumm!» Dieser Satz ging Frederic noch tagelang durch den Kopf. Vielleicht hatte Joe, der nicht Johann heissen wollte, ja recht. Wer nichts tut, ist doch dumm.

Ausgerechnet in der Mathematikstunde, als Frau Gerhard die Zahlen wild durcheinander multiplizierte und dividierte, hatte Frederic die Erleuchtung. Der Vogel war nicht dumm. Im Gegenteil, je schneller die Welt sich drehte und die Menschen wie Ameisen vor einem drohenden Gewitter wild hin und her rannten, desto mehr brauchte es Geschöpfe, die nichts taten. Die den ganzen Tag nur dastanden. Nur so konnte die Welt im Gleichgewicht bleiben.

Als Frederic das nächste Mal den Zoo besuchte, eilte er sofort ins Vogelhaus, um den seltsamen Vogel von seiner Entdeckung zu berichten. Und dann begann er zu erzählen, zunächst über sich, über das, was ihn in der Schule nervte und wohin er in den Sommerferien fuhr.

 

Von da an besuchte Frederic öfter den Zoo und seinen neuen Freund, den Schuhschnabel, so hiess das Tier, wie er inzwischen herausgefunden hatte. Manchmal musste er warten, bis er mit seinem Vogel allein war, bevor er anfing zu erzählen. Er wollte ja nicht, dass sich die Leute über den seltsamen Jungen mokierten, der Selbstgespräche führte.

Auch als Frederic älter und kräftiger wurde und die anderen Jungs bis spät am Abend auf dem Pausenplatz herumhingen, besuchte Frederic weiterhin den Schuhschnabel. Er erzählte, dass ihm die Versetzung in die Oberstufe Sorgen bereite und dass seine Eltern immer öfter stritten und sich anschrien. Später erzählte er, wie sich seine Eltern jetzt anschwiegen und wie Papa eines Abends den Koffer gepackt hatte und ohne etwas zu sagen ausgezogen war.

Frederic spürte, dass der Vogel ihn verstand, gerade weil er nichts tat. Als sein Gesicht rote Pickel bekam und seine Stimme tiefer wurde, nahmen die Besuche im Zoo ab, bis sie gänzlich ausblieben.

 

Neulich jedoch besuchte Frederic mit seiner Freundin den Zoo. Es war ein schöner Frühlingstag, die Osterglocken und die Tulpen blühten, am Horizont zeigten sich stolz die schneebedeckten Gipfel der Alpen. Frederic eilte zum Vogelhaus, er wollte ihr den Schuhschnabel zeigen.

Als sie beiden vor der Scheibe standen, fragte sie: «Und was ist so besonders an dem Vogel, ausser dass sein Schnabel die Form eines Schuhs hat?» Als Frederic nicht antwortete, lehnte sie zärtlich ihren Kopf an seine Schulter und sagte neckisch: «Wenn du ihn gut findest, dann finde ich ihn auch gut. Vor allem wenn es um Schuhe geht.» Frederik küsste sie zärtlich auf die Stirn.

Als sich die beiden umdrehten, um das Vogelhaus zu verlassen, hatte Frederic das Gefühl, dass ihm der Schuhschnabel zublinzelte. Nur kurz, für den Bruchteil einer Ewigkeit. Da wusste Frederic, die Welt war im Gleichgewicht.

 

Sommerserie Kindergeschichten

«Mir ist langweilig!» «Wann sind wir endlich da?» «Ich will aber zocken!» «Ich habe mein Buch schon fertig.» Wer kennt es nicht: die ersehnten Sommerferien sind da und damit jede Menge Zeit. Lust auf eine neue Geschichte? In der Sommerserie «Kindergeschichten» geht es um Kinder und Tiere, die füreinander da sind, voneinander lernen und das grosse Glück suchen.

Geschichten für Kinder und Erwachsene zum Lesen, Vorlesen und Erzählen. Ob im Zug, am Strand oder zu Hause auf dem Sofa, wir wünschen Ihnen einen schönen Sommer!

Erscheinungstermine

Dienstag, 16. Juli: Die kleine Milla und das grosse Glück, von Anna Schindler
Dienstag, 23. Juli: Mara, von Franz Osswald
Dienstag, 30. Juli: Tobias erlebt ein Abenteuer, von Noemi Harnickell
Dienstag, 6. August: Der Schuhschnabel, von Tilmann Zuber
Dienstag, 13. August: Charlie und das Wunder des Lebens, von Swantje Kammerecker

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