Der Glaube bietet einen Zugang
«Einmal kamen fast 40 muslimische Asylsuchende, um den Jesus-Film anzuschauen», erinnert sich Ursel Rutz. «Sie waren allgemein sehr offen gegenüber dem christlichen Glauben und freuten sich, wenn wir für ihre Familien in der Heimat beteten.» Rutz gab im Rahmen eines ökumenischen Projekts Deutschkurse für Asylsuchende, die in Sulgen untergebracht waren. Mitte März wurde die temporäre Unterkunft nach dreieinhalb Jahren geschlossen, weil die Plätze nicht weiter benötigt werden. Gemäss Roger Boxler, der beim Staatssekretariat für Migration für die Asylregion Ostschweiz verantwortlich ist, bewährt sich die Zusammenarbeit seit Jahrzehnten: «Auch wenn wir nicht explizit die Kirchen anfragen, sind es häufig Menschen mit kirchlichem Bezug, die sich für die Asylsuchenden engagieren und einen tollen Job machen.»
Keine vorschnelle Taufe
Für Ursel Rutz waren die letzten dreieinhalb Jahre eine prägende Zeit. Sie habe gemerkt, dass viele Muslime in der Religion nicht zuerst das Trennende sähen, sondern vielmehr das Verbindende. Einige seien auf der Suche nach Gott sogar so weit gewesen, dass sie sich taufen lassen wollten. Auch Urs Jäger, Pfarrer von Einsiedeln, wurde vor einigen Monaten mit diesem Wunsch konfrontiert. Er lud die drei Personen aus dem Iran zu einem christlichen Glaubenskurs ein. Jäger merkte rasch, dass das Interesse nicht bei allen gleich gross war. Während zwei Personen – ein Ehepaar, das auf dem Weg nach Kanada in der Schweiz «gestrandet» war – grosses Engagement zeigte, schien sich der dritte Iraner in erster Linie für einen Tauftermin zu interessieren. «Ich hatte den Verdacht, dass er auf eine schnelle Taufe aus war, um sein Asylverfahren zu vereinfachen», sagt Jäger. «Ich machte ihm deutlich, dass es bei mir keine schnelle Taufe gibt.» Zudem würden frisch zum Christentum konvertierte Asylbewerber gern im Verdacht stehen, das Asylverfahren positiv beeinflussen zu wollen. Tatsächlich verliess der Iraner daraufhin den Kurs. Um sicher zu gehen, dass das Interesse des Ehepaars echt ist, erklärte Jäger ihnen das Gleiche. Sie liessen sich davon aber nicht abhalten und besuchten weiter den Kurs. Bevor es zu einer Taufe kam, wurden sie allerdings nach Italien abgeschoben.*
Todesstrafe droht
Davon, dass sich viele muslimische Asylbewerber ehrlich für den christlichen Glauben interessieren, ist Timo Garthe überzeugt. Der Lengwiler Pfarrer ist Seelsorger im Bundesasylzentrum in Kreuzlingen. Mit vorschnellen Verdächtigungen ist er vorsichtig: «Eine Konvertierung ist sehr heikel, weil der Übertritt aus dem Islam zum Christentum in manchen islamischen Herkunftsländern sogar mit der Todesstrafe verbunden ist.» Es herrsche dort keine persönliche Glaubens- und Entscheidungsfreiheit in religiösen Dingen. Das würde hier häufig vergessen, weil diese Freiheiten für uns selbstverständlich seien. Weniger verkrampft Timo Garthe gibt zudem zu bedenken: «Asylsuchende aus streng islamischen Ländern, die sich bei uns dem christlichen Glauben zuwenden, brechen damit alle noch verbliebenen familiären und freundschaftlichen Beziehungen in ihre Heimat ab. Dieser Schritt ist in den Herkunftsländern nämlich gleichbedeutend mit dem Ausschluss aus dem Familienverband.» Trotz der Umstände gebe es in der Schweiz an vielen Orten christliche Migrations-Hauskreise und Gemeinden, in denen Menschen mit islamischem Hintergrund mitwirken. Das könne sehr bereichernd sein, betont Garthe, denn «Menschen aus islamischen Ländern gehen häufig viel unverkrampfter mit dem Glauben um als wir.»
*Lesen Sie hier die ganze Geschichte des iranischen Ehepaars.
(Cyrill Rüegger/Carmen Schirm-Gasser, 25. März 2019)
Der Glaube bietet einen Zugang