Ich war schockiert, als ich die Bilder von der Erstürmung des Kapitols in Washington gesehen habe. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass in der ältesten Demokratie der Welt so etwas passiert. Da frage ich mich: Ist auch bei uns jeder Anstand abhanden gekommen? Viele Politologen sagen, dass in den letzten Jahren anstatt Anstand immer mehr Protest und Polarisierung vorherrschen. Je pointierter sich ein Politiker äussert, desto eher erhält er Präsenz in den Medien. Diesen Eindruck habe ich auch. Allein in den letzten Monaten sind Politikerinnen mit bösesten Schimpfwörtern bespuckt worden und ist eine Bundesrätin als «Fake-News-Frau» bezeichnet worden; vermutlich aus Frust. Einige altgediente Politiker aus rechten Parteien können nicht damit umgehen, dass das Parlament seit eineinhalb Jahren jünger, weiblicher und ökologischer geworden ist. Der Anstand geht zunehmend verloren. Und damit geht ein wichtiger Erfolgsfaktor des schweizerischen Staatssystems verloren. Dieses beruht gerade darauf, dass lösungsorientiert politisiert wird. Umstrittenes wird ausdiskutiert. Aus meiner persönlichen Erfahrung sind die Voten für die Medien jedoch nur ein Aspekt. Die Sachgeschäfte werden in den Kommissionen diskutiert. Da erlebe ich meistens eine sachliche und kooperative Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg. Es wird nach mehrheitsfähigen Lösungen gesucht. Das stimmt mich für die Zukunft zuversichtlich.
Demokratie braucht Anstand