Das schöne Geläut im schönen Tempel
Der Aufstieg zu den Glocken ist hoch, die Lichtverhältnisse sind schlecht. Umso mehr muss mit Bedacht Tritt vor Tritt gesetzt werden, um auf der engen, aus groben Steinplatten gebildeten Spindeltreppe voranzukommen. Wenn schliesslich ganz oben das Aufwuchten der Falltüre gelungen ist, sind die letzten Schritte in die lichtdurchflutete und geräumige Glockenstube ein Leichtes.
Diese ausgesprochene Helligkeit ist den grossen, lamellenlosen Schallfenstern zu verdanken. Zudem geben sie zur Freude von Silvia und Peter Masüger den Blick frei in die erhabene Bergwelt mit den schneebedeckten Dreitausendern. In unmittelbarer Nähe grüsst vor einem bewaldeten Hügel die Kirche San Gian. Mit den beiden Türmen – dem grossen, brandgeschädigten und dem trutzig wirkenden kleineren – reiht sie sich in die Sakralbauten von nationaler Bedeutung ein. In ihr werden im Sommer die evangelischen Gottesdienste von Celerina gefeiert, während im Winter die im Dorfteil Crasta stehende Kirche zu den Gottesdiensten einlädt.
Die mitten in Celerina thronende Barockkirche Bel Taimpel wird in erster Linie für Konzerte und weitere kulturelle Veranstaltungen benützt. Als weitaus grösste Kirche läutet sie während zehn Minuten die Gottesdienste der beiden Kirchen ein. Schliesslich übernehmen letztere nach dem Verstummen des Bel Taimpel das Gottesdiensteinläuten für weitere fünf Minuten mit den eigenen, deutlich kleineren Glocken. In der Kirche Crasta werden dazu die Konfirmandinnen und Konfirmanden an die Glockenseile gebeten.
Celerina ist Langrickenbach
Der Akkord des vierstimmigen Geläutes entspricht dem Anfang des bekannten Kanons «Vom Aufgang der Sonne». Silvia und Peter Masüger sind überrascht und erfreut, dass die Tonfolge der Bel Taimpel-Glocken mit den Glocken ihres Wohnorts Langrickenbach übereinstimmt. Sie erklingt auf des’ / f’ / as’ / des’’, einem anmutig wirkenden Des-Dur-Oktavakkord. Da hier alle Glocken mehr oder weniger auf Augenhöhe hängen, lassen es sich Masügers nicht nehmen, behutsam an die Glocken zu klopfen. Und tatsächlich: Celerina ist auch Langrickenbach!
Mit tiefem Frieden erfüllt
Die diplomierte Pflegefachfrau Silvia Masüger und der promovierte Germanist Peter Masüger halten sich immer wieder gerne im Engadin auf. Peter Masüger, gebürtiger Churer, ist seit Kindheit mit dem Tal verbunden und hat verwandtschaftliche Beziehungen zur Region. Die Eheleute sagen übereinstimmend, dass Glocken in erster Linie Heimatgefühle und Erinnerungen ausdrücken würden.
Silvia Masüger weiss über ein besonders tiefes Glockenerlebnis zu berichten. Ihre Mutter verstarb in der Nacht auf Ostersonntag. Das vorherige Eindringen der Glockenklänge ins Sterbezimmer habe sie mit einem tiefen Frieden und mit Kraft erfüllt. Auch denkt sie gerne an die Zeit zurück, in der sie in Österreich bei ihrem Onkel, einem Mesmer, die Betzeitglocke von Hand läuten durfte. Peter Masüger versetzte das gemeinsame Läuten der Churer Kirchen vor allem an Feiertagen in eine besondere und gute Stimmung. Er findet, dass Glocken zu unserem Alltag, zu unserer Kultur dazugehören. Deshalb kann er die immer wieder auftauchenden Forderungen, dass Glockenklänge zu reduzieren oder gar abzustellen seien, nicht nachvollziehen.
Gleicher Fries in Lindau am Bodensee
Zurück in die Glockenstube des Bel Taimpel. Die grosse Glocke stammt aus dem Jahre 1921 und ist in Aarau gegossen worden. Sie hat das respektable Gewicht von 2090 Kilogramm. Ihre Zier wirkt geradezu vornehm und wurde wohl von der Vorgängerglocke übernommen. Diese war ein 1660 entstandenes Werk des Churers Gaudenz Hempel. Die etwas sperrige Fachsprache des Glockeninventars hält über das Dekor unter anderem fest: «Zwischen zwei Rundstegen, Doppelfries aus hersehendem Frauenkopf, flankiert von zwei geflügelten Putten, die auf Fabeltieren reiten, deren Leiber in eine Blüte übergehen.»
Wer die Stadt Lindau am Bodensee besucht, kann vor der evangelischen Stadtkirche eine grosse, abgestellte Glocke bewundern, die den selben Fries trägt. Im Jahre 1608 von der ortsansässigen Giesserei Ernst erschaffen, ist sie älter als die ehemalige Glocke von Celerina. Möglicherweise hat der beauftragte Holzbildhauer zwei- oder mehrmals den gleichen Fries geschnitzt. Auch könnte es sein, dass die Lindauer Giesserei den Fries einem Gesellen beim Austritt überliess, ehe das kunstvolle Stück wieder in der Giesserei Hempel in Chur auftauchte. Diese Art, geschnitzte Holzmodeln weiterzugeben, war in früheren Zeiten bei Glockengiessereien nicht unüblich. Solche Modeln wurden mit Bienenwachs ausgegossen, der im erkalteten Zustand beim Bau der Glockenform als Zierrat verwendet wurde.
Friedensbotschaft auf Rätoromanisch
Auf allen Glocken prangen rätoromanische Inschriften. So verkündet die grosse Glocke die folgenden Worte: GLORIA A DIEU NELLAS OTTEZZAS. (Ehre dem Herrn in den Höhen), sowie: IN TEMP DA GUERRA GET SFENDIEU, IN TEMP DA PÊSCH FÜT REFUNDIEU. (In der Zeit des Krieges wurde ich [wegen Materialermüdung] gespalten, in der Zeit des Friedens wurde ich neu gegossen).
Die drei kleineren, im neubarocken Stil verzierten Glocken kamen im Jahre 1903 über den Berninapass ins Oberengadin und wurden als Erstes von den Schulkindern empfangen. Diese Instrumente erschuf Giorgio Pruneri in Grosio (Veltlin), der zudem viele Kirchtürme des Puschlavs mit Glocken ausgestattet hatte. Die grössere und die mittlere Stimme dieser Veltliner Glocken setzen die weihnächtliche Friedensbotschaft der grossen Glocke mit den Worten fort: PÊSCH SÜN TERRA (Friede auf Erden) sowie BAINPLASCHAIR VI ALS CRASTIAUNS (den Menschen zum Wohlgefallen).
Glockenspaziergang – ganz aktuell
Im Oberengandin bietet der Kirchenführer Walter Isler regelmässig Kirchen- und Orgelspaziergänge an, unterstützt durch den Organisten Jürg Stocker. In diesem Rahmen wird in Celerina eine Führung zum Thema Kirchenglocken angeboten. Natürlich dürfen da weder Glocken- noch Orgelklänge fehlen.
Auslegung: «Amen»
Die kleine Glocke beschliesst die auf den übrigen Glocken prangenden Worte mit «AMEN». In einem Buch wird diese Inschrift versehentlich als «AMOR» aufgeführt. Amen – Amor! Schön, wenn die beiden Worte von der Bedeutung her miteinander verwandt wären. Das Amen mit der Bedeutung «So sei es» hat am Schluss von Gebeten und Predigten das letzte Wort. Auch wird es umgangssprachlich und sprichwörtlich im Sinne einer Bekräftigung angewendet. Was wäre, wenn Amor, die Liebe, in unserer Welt vermehrt das letzte Wort hätte? Dann wäre es vielleicht das erste Wort hin zur Versöhnung und zum Frieden.
Das schöne Geläut im schönen Tempel