News aus dem Thurgau

Damit die Kirche im Dorf bleibt

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25.11.2019
Die Landeskirchen und der Kanton Thurgau kennen keine Berührungsängste. Dafür Kuriositäten: So kann ein evangelischer Regierungsrat sogar ein bisschen mitreden, wer in Basel katholischer Bischof wird. Und sonst?

Strukturgebender Staat, sinnstiftende Kirchen. Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Ein angeregtes Gespräch der drei «höchsten Kirchenverantwortlichen» im Thurgau zeigt auf, welches die gemeinsamen Wurzeln und wichtige Werte sind. Sie gehen dem Zusammenspiel von Kirche und Staat anlässlich des 150-Jahr-Jubiläums der Thurgauer Landeskirchen auf den Grund: der katholische Kirchenratspräsident Cyrill Bischof, sein evangelischer Amtskollege, Pfarrer Wilfried Bührer, sowie Regierungsrat Walter Schönholzer.

 

Das Regierungsbild 2019 zeigt die Thurgauer Regierung auf dem Nollen neben dem Gipfelkreuz. Zufall oder Absicht?
Walter Schönholzer: Die Person, die das Regierungspräsidium wahrnimmt, hat das Privileg, das Sujet zu bestimmen. Regierungspräsident Jakob Stark hatte nun die Idee, dass sich die Regierung für das Foto auf «der Rigi des Thurgaus», dem Nollen aufstellt. Das hatte zwei tiefsinnigere Gründe. Erstens: Der Nollen ist der einzige Ort im Thurgau, von wo aus man praktisch das ganze Kantonsgebiet überblicken kann. Zweitens: Das Kreuz auf dem Nollen und die Kirche Welfensberg im Hintergrund symbolisieren die Werte, die der Regierung wichtig sind. 

Wilfried Bührer: Gerade im Jahr des 150-jährigen Bestehens der Thurgauer Landeskirchen ist das eine schöne Geste! Deshalb wollen wir gemeinsam feiern und uns freuen. Es freut mich, dass die Regierung zu den Wurzeln unseres Kantons steht. Das darf man ruhig positiv werten, und es geht sicher nicht darum, Andersdenkende auszugrenzen.

Cyrill Bischof: Genau. Dabei geht es nicht darum abzugrenzen oder auszugrenzen, sondern authentisch zu sein. Unsere Gesellschaft beruht auf Werten der antiken griechischen Kultur, des Christentums und der Aufklärung. 

Aufklärung und Christentum – kein Widerspruch?
Cyrill Bischof: Nein, gar nicht. Ich sehe das als einen Entwicklungsprozess, auch wenn sich die Kirchen lange gegen diese Ansicht gesträubt haben. Die Orientierung an den Wurzeln zeigt heute die enge Verknüpfung der Werte der persönlichen Freiheit mit der Verantwortung gegenüber der Schöpfung – der Achtung des Göttlichen –in der Art, wie es Jesus Christus uns vorgelebt hat.

Walter Schönholzer: Das bringt die Bildsprache auf dem diesjährigen Regierungsbild auf den Punkt! Führung in Politik und Kirche hat immer mit Freiheit und Verantwortung, mit Menschen und Organisationen zu tun. Da ist eine gute Verankerung wichtig. Alle Menschen bringen Erfahrungen aus dem Elternhaus mit, Beziehungen zu Menschen können ein Anker sein, auch die kirchliche Prägung kann eine Rolle spielen. Und ich frage mich: Wie kann man führen ohne diesen Anker, der uns bewusst macht, dass wir uns selber nicht zu wichtig nehmen? Regieren ist Gabe und Verantwortung zugleich. Die Regierung ist nur ein Werkzeug. Als Regierungsverantwortliche müssen wir mit verschiedensten Charakteren und Ansichten umgehen können und das Beste daraus machen.

Wie aber empfinden Sie diesen Prozess im Zusammenspiel mit den Landeskirchen?
Walter Schönholzer: Im Thurgau läuft das relativ unkompliziert. Wir dürfen eine sehr gute Zusammenarbeit pflegen. Die Kirche spielt eine wichtige Rolle. Sie unterstützt den Staat. Ich denke an die Peregrina-Stiftung, die vom Kanton mit der Integration von Flüchtlingen beauftragt ist. Das zeigt sich auch daran, dass die Sitzungen des Thurgauer Grossen Rates zweimal im Jahr mit einem Gottesdienst beginnen. Ich finde es jedes Mal eindrücklich, wie viele der Mitglieder dabei sind – freiwillig, womit sie sich zu diesen christlichen Werten bekennen. Parlamentarierinnen und Parlamentarier pflegen vielfältige Beziehungen zu den Kirchen. Eine kleine Anekdote: Als dieser Gottesdienst einmal beim Pfarrer vergessen ging, hat kurzerhand ein Geistlicher aus dem Parlament eine spontane Feier gestaltet.

Cyrill Bischof: Das hat sich in diesen 150 Jahren offenbar gut eingespielt. Es bewährt sich, dass die Zuständigkeiten klar zugewiesen wurden und sogar im Ratsbetrieb unkompliziert Früchte tragen. Das ist auch Ausdruck unserer kurzen Wege und des Bewusstseins, dass Politik und Kirche gemeinsam für eine funktionierende Gesellschaft Verantwortung wahrnehmen müssen.

Walter Schönholzer: Es gab natürlich mit der Aufhebung der Klöster, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Staatsbesitz übergingen, auch neue Schnittstellen: Kloster Fischingen, Katharinental, Kartause Ittingen bleiben auch in Zukunft ein Thema und fordern uns gemeinsam heraus.

Nach 150 Jahren: Nehmen die kantonalen Landeskirchen und die Kirchgemeinden auch eine kulturhistorische Verantwortung wahr?
Wilfried Bührer: Wir sind stolz auf unsere sakralen Bauten. Aber der Unterhalt der vielen alten Kirchen kann auch zur Belastung werden: Es gibt keine anderen Institutionen, die so viel denkmalwürdige Bauten haben wie die beiden Landeskirchen. Die gegenwärtige Art der Finanzierung ist optimal: Die Kirchen dürfen als öffentlich-rechtliche Körperschaft Steuern einziehen – ein Privileg, aber eine Verpflichtung zugleich, die von den Kirchgemeinden vorbildlich wahrgenommen wird. Sie pflegen die Bauten, halten sie in Schwung und erhalten dadurch wertvolles Kulturgut.

Walter Schönholzer: Wir müssen uns auch bewusst sein, dass Kirchen nicht einfach geschliffen werden können.

Cyrill Bischof: Natürlich dürfen wir uns auch nicht der Entwicklung verschliessen, dass es den Menschen immer leichter fällt, sich aus der Kirche zu verabschieden. Das hat indirekt Auswirkungen auf die denkmalgeschützten Objekte. Die Frage ist, wie lange die Kirchenmitglieder das finanziell noch allein stemmen können. Die gesamtgesellschaftliche Funktion und kulturelle Verantwortung wird oft unterschätzt. Deshalb ist es wortwörtlich wichtig, dass die Kirche im Dorf bleibt. Sie ist nicht nur ein religiöser Ort.

Walter Schönholzer: Deshalb hat sich der Regierungsrat auch immer konsequent gegen die Abschaffung der Kirchensteuern juristischer Personen gewehrt. Auch in der aktuellen Steuerreform haben wir die Verantwortung der Kirchgemeinden finanziell berücksichtigt und die zu erwartenden Steuerausfälle um eine Million Franken gemildert.

Wilfried Bührer: Solange wir können, nehmen wir die Verantwortung für den Unterhalt der Gebäude gerne wahr. Falls aber einmal eine Situation eintritt, wo die Trägerschaft der Kirchen nur noch aus den Gläubigen im engeren Sinn besteht, kann man nicht von diesen verlangen, dass sie alle Gebäudelasten tragen. Manche wurden nicht nur im Blick auf die Bedürfnisse der Gläubigen gebaut, sondern waren und sind Prestigebauten ganzer Dörfer und Städte.

Ist denn die Kirchensteuer überhaupt noch zeitgemäss?
Walter Schönholzer: Ich habe grossen Respekt davor, dass die Steuerzahlenden wählen können, ob sie Kirchensteuern bezahlen wollen oder nicht. Dies obwohl die Erwartungshaltung gegenüber der kirchlichen Arbeit stetig steigt. Dieses Spannungsfeld kennt nur die Kirche, nicht aber der Staat. Es ist deshalb umso wichtiger, dass der Staat die Zusammenarbeit bewusst sucht und wertschätzt, was die Kirchen machen. Ich denke gerade an die kirchliche Jugendarbeit. Das darf nicht selbstverständlich sein, und es ist wichtig, dass wir öffentlich hervorheben, was hier geleistet wird.

Cyrill Bischof: Wenn ich jemanden treffe, der austreten will, mache ich darauf aufmerksam, dass die persönliche Überzeugung und die Spiritualität das Eine ist. Aber das Andere ist der Akt der Solidarität, wenn ich «Ja» sage zur Kirchensteuer – mit grosser Breitenwirkung übrigens: baulich, sozial und als Beitrag, um friedliches Zusammenleben zu gewährleisten.

Walter Schönholzer: Mich stört gerade im Zusammenhang mit der Kirchensteuer die zum Teil herrschende „Geiz-ist-Geil-Kultur“. Nichts ist gratis!

Was leistet denn die Kirche sonst noch im Dienst der Gesellschaft?
Wilfried Bührer: Es geht um gute, innere Aufbauarbeit. Diese Aufgabe ist nicht einfach, und im multireligiösen Kontext wird sie schwieriger. Aber sie ist nicht chancenlos.

Walter Schönholzer: Gerade die Jugendarbeit wird auch anspruchsvoller, weil immer häufiger die Wertevermittlung im Elternhaus wegfällt. Da ist es von unschätzbarem Wert für die Gesellschaft, wenn Werthaltungen vermittelt werden. Auch meine eigenen Kinder beeindrucken mich: Dank der kirchlichen Jugendarbeit darf ich sogar wahrnehmen, dass sie ihren Glauben stärker leben als wir Eltern.

Cyrill Bischof: Die Kirche wirkt sinngebend; davon profitiert natürlich auch der Staat, welcher letztlich eine Organisationgemeinschaft ist. Andererseits kann kirchliche Sozialisierung nicht einseitig erfolgen. Lebendige Kirche ist keine Insel. Es braucht tatsächlich dazu das Zusammenspiel von Kirche und Gesellschaft. Ich stelle gerade in Schulen fest, dass es für die Kinder und Jugendlichen förderlich ist, wenn die Kirchen nicht in die Ecke gedrängt, sondern akzeptiert werden und positiv mitwirken können. Um zukünftig auf genügend kompetente kirchliche Mitarbeitende zählen zu können, ist es wichtig, dass sich einerseits breitere Kreise neu bewusst werden, dass ein guter kirchlicher Berufsnachwuchs der gesamten Gesellschaft dienlich ist. Andererseits müssen natürlich diese Berufszugänge offener und freier gestaltet werden. Wir setzen uns sehr dafür ein, dass sich auch fähige Menschen ohne Theologiestudium beruflich bei uns engagieren können.

Walter Schönholzer: Es ist natürlich auch ein Spagat, den die Kirchen leisten müssen: Einerseits sollen sie die Werte hochhalten, andererseits müssen sie sich der Gesellschaft anpassen. Da heisst für mich konkret, dass ich eine Predigt wünsche, die einen Bezug zu meinem Alltag hat und woraus ich etwas lernen und mitnehmen kann. Sich der gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen heisst aber nicht, alles mitmachen zu müssen. Dann besteht die Gefahr, dass die Kirchen ihren Hauptauftrag verpassen.

Was kann die Kirche der Zukunft überhaupt leisten?
Wilfried Bührer: Wir feiern 150 Jahre des guten Zusammenwirkens, und wir sind in mancher Hinsicht parallel zum Staat organisiert, die Kirchgemeinden funktionieren nach dem Territorialprinzip. Wir merken, dass das heutige System nicht mehr das einzig richtige sein muss: Menschen haben verschiedene Lebensmittelpunkte und andere Lebensmodelle also vor 150 Jahren. Wir müssen deshalb kirchliche Aufbrüche zulassen, die nicht aus den bestehenden Strukturen herauswachsen. Es gibt gute Beispiele im Thurgau – zum Beispiel die „VerwertBar“ in Kreuzlingen: Aus dem Bedürfnis nach Lebensmitteln entstanden die Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Klärung von Glaubensfragen. Das ist nicht überall kopierbar, aber es sprengt die bestehenden Strukturen. Wir werden deshalb eine neue Stelle schaffen, die Experimente in neuen Feldern ermöglichen kann. Wir werden sehen, was daraus wird. Auf alle Fälle wollen wir neue Aufbrüche fördern.

Walter Schönholzer: Das passt! Genau dort, wo der Staat mit seiner Verantwortung nicht mehr zuständig ist, können die Kirchen einsetzen.

Wilfried Bührer: Genau, auch unsere kirchliche Arbeitslosenberatung bietet Dienstleistungen, die nicht von den Arbeitsvermittlungszentren wahrgenommen werden können.

Cyrill Bischof: Das führt uns zu den vier kirchlichen Grundpfeilern, die sich ergänzen müssen – also nicht nur Liturgie und Verkündigung, sondern genauso auch Diakonie und Gemeinschaft. Einige Kirchgemeinden haben Mitarbeitende mit dem klaren Aufgabenschwerpunkt Diakonie. Dadurch können Menschen unabhängig ihrer Religion oder Konfession bei verschiedensten Anliegen Hilfestellungen geboten werden.

Man stellt fest, dass neue – auch diakonische – Angebote, wieder vermehrt in den Fokus rücken. Hat die Kirche vielleicht das eine oder andere in den letzten Jahren vernachlässigt
Wilfried Bührer: Der Thurgau war einer der letzten Kantone, in denen die Fürsorge an den Staat übergegangen ist. Beim heutigen religiösen Pluralismus wäre es gar nicht denkbar, dass die Kirche alles für alle wahrnehmen würde. Es ist schon richtig, dass der Staat die Grundversorgung übernimmt.

Walter Schönholzer: Heute sind die Anforderungen an die Sozialdienste viel komplexer. Auch die finanziellen Herausforderungen sind viel grösser als vor 150 Jahren. Die Kirchen haben nicht zu viel aus der Hand gegeben. Aber es gibt nach wie vor Schnittstellen, wo die Kirchen ergänzend wichtige Dienste übernehmen können. Gerade auf Gemeindeebene ist es sinnvoll, wenn sich die Kirchen vermehrt einbringen. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu lernen, wie wir mit anderen religiösen Gemeinschaften umgehen sollen. Das ist eine Realität, vor der wir uns nicht verschliessen dürfen.

Da stellt sich natürlich die Frage, wie die Landeskirchen mit anderen Religionen umgehen.
Cyrill Bischof: Da plädiere ich für echte Offenheit. Es geht nicht um Abgrenzung, sondern um die Stärkung der eigenen Wurzeln. Wir sind nicht stark, weil wir Mauern bauen.

Wilfried Bührer: Was den Umgang mit Andersgläubigen betrifft, gibt es zwei Ebenen: Erstens ist es biblisch legitim, wenn man eine besondere Solidarität mit Glaubensgeschwistern pflegt. Mich beschäftigt es beispielsweise, wenn Christen weltweit grosse Verfolgung leiden. Zweitens hat uns Jesus aber auch gelehrt, allen Menschen, gerade auch Fremden und sogar Feinden, in einer liebevollen Haltung zu begegnen.

Cyrill Bischof: Diese traditionellen Werte dürfen wir keinesfalls über Bord werfen, denn sie geben uns Orientierung beim Bewältigen der neuen gesellschaftlichen Herausforderungen. Es braucht von allen Seiten Offenheit. Es braucht weniger religiöses Konkurrenzdenken, dafür mehr Antrieb, neue Wege zu gehen.

Walter Schönholzer: Die Gefahr von Konfrontationen besteht natürlich. Ich sehe es aber auch als Aufgabe des Staates, unsere christlichen Grundwerte zu verteidigen und gleichzeitig andere Religionen zu akzeptieren. Denn unsere freiheitlich liberale Gesellschaft beruht auf christlichen Grundwerten. Ich halte deshalb nichts davon, einerseits muslimische Feiertage einzuführen; andererseits lehne ich Bestrebungen ab, christliche Feiertage abzuschaffen.

Was rechtfertigt eine solche Haltung?
Walter Schönholzer: Die Bundesverfassung steht noch immer unter der Präambel «Im Namen Gottes des Allmächtigen». Im Thurgauer Lied und in unserer Nationalhymne besingen wir regelmässig diese Werte. Oder nehmen wir unser Volksschulgesetz, in dem ausdrücklich festgehalten ist, dass die Kinder in der Schule nach christlichen Grundsätzen und demokratischen Werten zu selbständigen Persönlichkeiten und zu Verantwortungsbewusstsein erzogen werden.

Cyrill Bischof: Es liegt im Interesse aller, dass sich keine Parallelstrukturen oder Milieus entwickeln. Im Zentrum steht die Akzeptanz der Rechtsordnung, auch wenn wir andere Religionen als Teil der Gesellschaft akzeptieren.

Walter Schönholzer: Akzeptieren ja, aber die Anerkennung von muslimischen Gemeinschaften als öffentlich-rechtliche Körperschaften kommt für mich nicht in Frage. Natürlich muss der Staat daran arbeiten, und wir müssen uns überlegen, wo die Grenzen zu ziehen sind. Die heutigen Antworten auf neue Phänomene sind noch nicht abschliessend.

Die heutige Individualisierung ist auch ein solches Phänomen, wie soll man damit umgehen?
Walter Schönholzer: Leider gibt es eine Tendenz, dass die Gesellschaft orientierungsloser wird. Je haltloser die Gesellschaft wird, desto mehr wird aber ein Teil der Menschen wieder sagen, dass sich etwas ändern muss und dass man nicht nur für sich alleine schauen kann. Ich glaube, der Moment kommt, in der die Kirchen sogar wieder wachsen.

Cyrill Bischof: Das ist natürlich auch davon abhängig, wie wir als Kirchen attraktiv und zeitgemäss auftreten.

Wilfried Bührer: Der Individualisierung können wir uns nicht verschliessen, sie fordert uns heraus. Und natürlich müssen wir als Christen geeinter auftreten. Das ist ja genau der Aspekt, den wir mit dem gemeinsamen 150-Jahr-Jubiläum der Landeskirchen betonen möchten. Vor 150 Jahren wäre das so nicht möglich gewesen.

Wie könnte denn die Zukunft der Landeskirchen aussehen?
Wilfried Bührer: Unsere «Standardangebote» wie Sonntagsgottesdienst, Taufen, Unterricht, Konfirmation bzw. Firmung, Hochzeiten oder Abdankungen werden nach wie vor dazu gehören. Ich konnte in der anglikanischen Kirche in England aber einige Ideen sammeln und pflege wertvolle Beziehungen. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir uns weiterentwickeln können und müssen. Ich habe festgestellt, dass in England trotz dem extremen Mitgliederschwund immer noch hohe Erwartungen an die Landeskirche gerichtet werden und dass mit «Fresh Expressions» erfolgreich neue Wege eingeschlagen wurden. Das wollen wir in der Evangelischen Landeskirche Thurgau mit der neuen Stelle zur Förderung von «kirchlichen Erprobungsräumen» ebenfalls ermöglichen – und zwar bevor der Druck so gross wird, wie er in England war.

Was kann denn der Kanton dazu beitragen? Spielt der Staat dabei auch eine Rolle?
Walter Schönholzer: Der Staat kann Rahmenbedingungen schaffen und fördern. Man könnte zum Beispiel Leistungsaufträge oder finanzielle Abgeltungen diskutieren. Wenn der Staat aufhört, gemeinsam mit den Kirchen die Werte hochzuhalten, verludert unsere Gesellschaft.

Wie wird das in Zukunft alles finanziert?
Wilfried Bührer: Wir können das mit den üblichen Kirchensteuern finanzieren. Wir müssen aber die Leute vorbereiten, dass die Ressourcen kleiner werden könnten. Wir müssen uns für die Zukunft deshalb auch andere Finanzierungsmodelle überlegen – Sponsoring oder Spenden beispielsweise. Es wäre aber schade, wenn wir zu viele Ressourcen in die Mittelbeschaffung investieren müssten. Deshalb ist es wichtig, dass wir heute die Position der Stärke weiter nutzen und die Mitglieder motivieren, um auch in Zukunft gemeinsam genügend Geld für das Engagement zu haben.

Braucht es denn überhaupt so viele verschiedene Landes- und Freikirchen? Wäre weniger nicht mehr?
Walter Schönholzer: Die Zusammenarbeit muss unbedingt gefördert werden. Ich erlebe beispielsweise die Allianzgottesdienste in Sulgen sehr eindrücklich. Einer Fusion von steuerfinanzierten Landes- und spendenfinanzierten Freikirchen könnte ich hingegen nichts abgewinnen, denn eine gute Zusammenarbeit lebt auch von den verschiedenen Gemeinschaften mit unterschiedlichem Charakter. Es braucht eine grosse Klammer, und mit mehreren kirchlichen Organisationen können wir mehr Menschen abholen.

Cyrill Bischof: Ich wäre sofort dafür, noch viel intensiver zusammenzuspannen – wie zum Beispiel die Mitglieder gewisser Parlamentsfraktionen, welche auch bei unterschiedlicher Parteizughörigkeit gemeinsame Sache machen. Das könnten die beiden Landes- und möglicherweise auch die Freikirchen noch konsequenter anstreben. Diesen Graben zwischen evangelisch und katholisch – oft mitten durch Familien hindurch – verstehen die Menschen im Thurgau schlicht nicht mehr. Das gemeinsame Grundanliegen der frohen Botschaft von Jesus Christus soll ins Zentrum rücken und geeint vertreten werden. Ich frage mich schon, warum wir so viel separierte Gottesdienste feiern. Warum nicht häufiger solche gemeinsamen Gottesdienste, wie beispielsweise in Romanshorn jährlich beide Landeskirchen zusammen mit den Freikirchen gestalten? Es geht auch darum Kräfte zu bündeln und Synergien zu nutzen, um auch die äussere Wahrnehmung zu verstärken.

Werden da nicht theologische Bedenken laut?
Cyrill Bischof: Natürlich müssen wir die grossen theologischen Fragen nicht im Thurgau lösen – wir können uns aber so einrichten, dass sie nicht mehr diese trennende Rolle spielen. Und lieber einmal einen Schritt zu weit gehen, als einfach stehen zu bleiben! Vor Ort müssen wir nach einem meines Erachtens jahrelangen Stillstand eine neue Stufe zünden. Anstelle gewisser Dogmendiskussionen müsste heute die Frage im Zentrum stehen: Was brauchen die Menschen vor Ort im Alltag zu einer lebendigen Gemeinschaft?

Die gleichberechtigte, staatspolitisch geregelte Stellung der beiden Landeskirchen im Thurgau war vor 150 Jahren eine Errungenschaft. Was ist daran heute noch wichtig und richtig?
Walter Schönholzer: Wichtig ist der gemeinsame Auftrag, Werte zu vermitteln und Menschen in ihrer individuellen Art abzuholen.

Wilfried Bührer: Die eigene Kirche ist auch ein Stück Heimat. Ich denke nicht, dass wir jetzt gleich alles über Bord werfen sollen. Es war übrigens auch nicht nur die grosse Weisheit unserer Vorväter, die dieses sogenannt paritätische Verhältnis etabliert haben. Vielmehr war es ganz einfach der Druck der Umstände, wonach eine solche Lösung sich geradezu aufdrängte.

Cyrill Bischof: Man darf aber auch nicht vernachlässigen, dass es in einigen Gemeinden oder Regionen damals überhaupt keine konfessionelle Ausgeglichenheit gab. Insofern war die Verfassung auch ein wichtiges Werkzeug für den religiösen Frieden, was uns heute noch Vorbild sein darf.

Herr Schönholzer, wie kommt es eigentlich überhaupt dazu, dass Sie als Volkswirtschaftsdirektor für die Kirchen zuständig ist?
Walter Schönholzer: Mein Departement für Inneres und Volkswirtschaft ist für den Verkehr mit den Gemeinden verantwortlich, da gehören die Kirchgemeinden dazu. Die Kantonsverfassung von 1869 lässt den Kirchen grösstmöglichen Spielraum. Doch es gibt einige wenige – auch einzigartige – Schnittstellen, bei denen die Politik in Kirchenfragen in die Pflicht genommen wird.

Nämlich?
Walter Schönholzer: Der Grosse Rat genehmigt die Kirchenverfassungen. Das passiert zwar nicht sehr häufig. Ausserdem kennen wir ja immer wieder einmal Vorstösse, wenn es um die Kirchensteuerpflicht geht.

Und was ist einzigartig?
Walter Schönholzer: Der für kirchliche Angelegenheiten zuständige Regierungsrat darf bei der katholischen Kirche bei der Bischofswahl mitreden. So kommt es also zum weltweiten Kuriosum, dass ich als Protestant bei der Wahl des Bischofs des Bistums Basel mitreden darf. Aber keine Angst. Auch hier gilt: Dank guter Beziehungen und ähnlichen Wertvorstellungen kriegen wir auch das hin!


(Interview: Roman Salzmann, 20. November 2019)

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