Christliche Werte als Basis, aber...
Wenn in den USA ein Präsident gewählt wird, spielen Kirchgemeinden eine grosse Rolle. Wer die gewisse Kreise von Christinnen und Christen von sich überzeugt, kann bei der Abstimmung auf rund ein Viertel der US-Bevölkerung zählen. Kein Wunder, dass Kandidierende dort ihre christlichen Werte vor sich hertragen wie eine Monstranz, auch wenn ihr Lebenswandel dem nicht immer entspricht. In der Schweiz gingen Politiker subtiler mit christlichen Werten um, sagt Antonius Liedhegener von der Universität Luzern. Liedhegener muss es wissen: Er ist Professor für Politik und Religion am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik. «Bis vor einigen Jahren hatte Religion im Bewusstsein der politischen Öffentlichkeit in der säkularen Sphäre der Partei-Politik keinen Platz», betont er. «Aktuell kommt Religion aber bei prominenten politischen Sachentscheiden ins Spiel. Bei der Konzernverantwortungsinitiative beispielsweise haben Kirchen und kirchennahe Verbände vehement für eine Annahme der knapp gescheiterten Initiative gekämpft.»
Gerechtigkeit, Schöpfung, Nächstenliebe
«Christliche Werte sind im Wahlkampf allgegenwärtig, jedoch sind sie keine klassische Stimmenfänger», sagt Tobias Keller vom Meinungsforschungsinstitut gfs.bern. Keller war langjähriges Mitglied der Redaktionskommission des Thurgauer Kirchenboten und erklärt das Werteverständnis: «Das liegt vor allem daran, dass Werte unterschiedlich interpretiert werden können.» Der in Frauenfeld geborene Experte für Politik- und Kommunikationsforschung nimmt «Gerechtigkeit» als Beispiel: «Bei Themen wie der Migration streiten sich die Parteien, was nun gerecht ist.» Mit der Nächstenliebe sehe es ähnlich aus.
So ticken Thurgauer Parlamentsparteien
Wie sieht das aber im Thurgau bei den Parteien aus, die im Kantonsparlament vertreten sind? Wie sollen sich Menschen im Wahlkampf eine eigene Meinung bilden können? Die vielen Aussagen und Anliegen machen es nicht politisch engagierten Menschen nicht ganz einfach. Christliche Werte werden im Thurgau im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen meist nicht breitgeschlagen, spielen aber doch eine Rolle. Grundsätzlich ist festzustellen, dass es auf die Personen ankommt, was die Einschätzung von Tobias Keller bestätigt: Je nach politischer Couleur werden christliche Werte anders gewichtet oder gar bewusst thematisiert – ein kleiner Überblick hilft dabei, die Schwerpunkte zu erkennen.
Gerecht und glücklich
Die Grünen Thurgau sprechen bei ihrem Internet-Auftritt (https://gruene-tg.ch/wahlen2023/) neutral davon, sich für «eine gerechtere und glückliche Gesellschaft» einzusetzen. Bei der FDP Thurgau (https://www.fdp-tg.ch/wahlen-2023) klingt es gar nicht so anders: Kris Vietze, die für National- und Ständerat kandidiert, lässt sich zitieren mit den Worten: «Mit dem Fokus aufs gesellschaftliche (Er-)Wirtschaften in allen seinen Dimensionen – Jobs, Altersvorsorge, Bildung, Umwelt, Klima – mache ich eine Politik, die der Bevölkerung wirklich etwas bringt.»
Sozial und bezahlbar
Die SP Thurgau (https://sp-tg.ch/wahlen23/) setzt sich unter anderem ein für «eine soziale Schweiz, bezahlbare Krankenkassenprämien und Gleichstellung.» Ähnliche Phänomene sind beim Thema «Umwelt» zu beobachten. Die Thurgauer SVP legt in ihrem Bildungs-Positionspapier Wert auf christliche Grundlagen in der Bildung nach humanistischen Grundsätzen (https://www.svp-thurgau.ch/wp-content/uploads/sites/25/Positionspapier-Bildung_Februar-2020.pdf)und verspricht zudem in ihrem Programm: «Wir tragen Sorge zu unserem Kulturland, zur Natur und zu unseren Alpen». Die «Mitte» hat zum Wahlkampf im Thurgau den nationalen Präsidenten eingebunden, der die Solidarität hochhielt und will die Schweiz mit ihren wichtigsten Begriffen «Freiheit, Solidarität, Verantwortung» zusammenhalten (https://tg.die-mitte.ch/). Die GLP will vor allem nachhaltig in ökologische Ressourcen investieren und ruft zu «Mut zur Lösung» auf (https://tg.grunliberale.ch/wahlen/Nationale-Wahlen/nationalratswahlen.html).
Die «Christlichen»
Die EVP Thurgau dürfte eigentlich keine Berührungsängste mit Worten wie «Bewahrung der Schöpfung» haben, spricht aber auf der Website (https://www.evp-thurgau.ch/aktuell/) auch vom «enkeltauglichen Umgang mit Ressourcen und Umwelt.» Sie wird aber doch noch konkreter: Sie positioniert sich nämlich als «christliche Partei in der politischen Mitte». Werte wie Gerechtigkeit oder Nächstenliebe hochzuhalten, reiche nicht, um klare Antworten auf aktuelle Probleme vorzubringen, so Keller. «Parteien, die diese Werte immer wieder betonen wie EVP oder EDU, erreichen national meist nur wenige Wählerprozente. Es gibt klare Zeichen, dass mit Christentum allein keine neue Wählerschaft gewonnen werden kann.» An einer EDU-Wahlveranstaltung standen nichtsdestotrotz die christlichen Werte voll im Mittelpunkt. Sie hätten ihren Ursprung klar in den 10 Geboten, wurde betont. In Ihrer Wahlzeitung (https://www.flyer-ueberall.ch/wahlzeitung-edu-schweiz/sponsern-d) schreibt die EDU den auch unmissverständlich, dass sie dafür einstehe, dass christliche Grundwerte in der Schweiz ein Einfluss gewinnen, denn: «Diese Werte – Nächstenliebe, Gemeinsinn, Treue und Verbindlichkeit – halten unsere Gesellschaft zusammen.»
Glaube und Wahlentscheidung korrelieren
Trotz dem Trend zur Entkirchlichung der Gesellschaft – im Thurgau wie auch in der gesamten Schweiz gehört rund ein Drittel keiner Konfession mehr an – sieht die Forschung immer noch einen statistischen Zusammenhang zwischen den religiösen Einstellungen und der Wahlentscheidung (https://statistik.tg.ch/public/upload/assets/145063/2023_Thurgau_in_Zahlen.pdf?fp=1686204379527). «Wir müssen bedenken, dass der formelle Austritt aus der Institution Kirche nicht immer die Religiosität des Einzelnen betrifft», so Liedhegener. «Es besteht ein bekannter, im Grundmuster vergleichsweise stabiler Zusammenhang. Demnach wählen Katholiken und Katholikinnen (im Thurgau 28.5 Prozent) – insbesondere, wenn sie regelmässig in die Kirche gehen - immer noch auffallend oft die ‹Mitte›, die frühere CVP. Protestanten (im Thurgau 29,5 Prozent) bevorzugen SVP und FDP. Konfessionslose (im Thurgau 28 Prozent) wählen häufiger Grün, SP oder GLP.»
Wohl kaum amerikanische Sitten
Die Erkenntnis könnte dazu führen, dass die Schweizer Parteien ihre Zielgruppen gezielt bewirtschaften, so also über Soziale Medien oder Mailings mit religiösen Themen ansprechen. «Bei EVP und EDP ist dies durchaus der Fall», sagt Liedhegener. «Doch allgemein fehlt dafür in der Schweizer Politik einfach der Background.» Die Wahrscheinlichkeit, dass in der Schweiz in nächster Zukunft amerikanische Verhältnisse herrschen, ist gering.
Parteiprogramme untersucht
Christian Public Affairs (CPA) hat die Wahlprogramme unter die Lupe genommen: Untersucht wurden die Programme der sechs wichtigsten politischen Parteien der Schweiz sowie der EDU und der EVP, die sich auf christliche Werte berufen. Per Klick gelangen Sie zur Auswertung auf der Webseite von CPA.
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