News aus dem Thurgau

Bleiben bis zum Ende?

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02.02.2017
Sollen Seelsorger einen assistierten Suizid von A bis Z begleiten? In dieser Frage gehen die Meinungen auseinander. Die Waadtländische reformierte Kirche jedenfalls rechnet mit ihrer Anwesenheit – und hat gar eine Pflicht erwogen.

Sollte man als Seelsorgerin oder Seelsorger am Sterbebett dabei sein, wenn Exit mit dem Giftbecher kommt? Ja, wenn möglich schon, findet die reformierte Kirche im Waadtland. Dort erhielten die in der Landeskirche angestellten Seelsorger Mitte Januar eine Empfehlung des Synodalrats, wie die Westschweizer Nachrichtenagentur «protestinfo» berichtete. Darin wird die Abwesenheit des Seelsorgers im Moment des Suizids zwar gestattet. Jedoch sollte in so einem Fall ein Gespräch mit dem Vorgesetzten geführt werden. Grundsätzlich wird also mit Anwesenheit des Seelsorgers gerechnet.

Tatsächlich hat der Synodalrat der waadtländischen reformierten Kirche (EERV) sogar eine Anwesenheitspflicht erwogen, wie Dominique Troilo, Koordinator (Dekan) der waadtländischen Altersheimseelsorge, auf Anfrage erläutert: «Es gab die Meinung, dass Seelsorgende bei der Begleitung des assistierten Suizids nicht nur vor und nach, sondern auch während dem Akt da zu sein hätten.» Vorbild sind einzelne waadtländische Pfarrpersonen, die sich dafür entschieden haben.

Ein Zeichen der göttlichen Zuwendung?
In der Empfehlung des Synodalrats heisst es: «Die Anwesenheit des Seelsorgers kann zum Zeichen für die betroffene Person werden, dass sie weder von den Menschen noch von Gott allein gelassen wird.» Allerdings werden auch Gründe vorgetragen, die gegen eine solche Anwesenheit sprechen. Schliesslich wird die Entscheidung den Seelsorgern überlassen.

Das ist zu einem guten Teil Dominique Troilo zu verdanken. Er ist erleichtert, dass seine abweichende Haltung in die Empfehlung einfliessen konnte. Troilo kann es sich persönlich nicht vorstellen, in diesem Moment anwesend zu sein und wollte hier deshalb «mässigend» wirken. Er erzählt von einem Bauern, der ihn gebeten habe, ihm die Schlinge um den Hals zu legen und ihm beim Sterben die Hand zu halten. «Anwesenheit beim assistierten Suizid liegt für mich auf der gleichen Linie», sagt er. «Da mache ich nicht mit.» Troilo glaubt, dass es vielen Kollegen genauso geht.

«Ich könnte das nicht»
In Luzern zum Beispiel müssten sich Seelsorger eher rechtfertigen, wenn sie beim begleiteten Suizid dabei sein wollen. Die Seelsorgenden der Altersheime der Stadt Luzern schliessen diesen Fall kategorisch aus. Sie schrieben 2011 im Rahmen einer Vernehmlassung: «Auch wenn die Seelsorgenden einen suizidwilligen Menschen begleiten, wirken sie an der Vorbereitung und Durchführung eines Suizides nicht mit, auch nicht durch ihre Präsenz beim Akt der Selbsttötung.»

Auch andernorts haben Seelsorger Vorbehalte, dem begleiteten Suizid beizuwohnen. Susanna Meyer Kunz, reformierte Seelsorgerin im Palliativzentrum des Kantonsspitals Graubünden, sagt auf Anfrage: «Ich könnte das nicht». In die gleiche Richtung geht Claudia Jaun, katholische Altersheimseelsorgerin in Luzern, die es im Moment «eher nicht» machen würde.

Auswirkungen einer Anwesenheit
Anders tönt es bei Pascal Mösli, Beauftragter für Spezialseelsorge und Palliative Care bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. In einem Interview mit dem Magazin «bref» sagte er kürzlich: «Ich würde grundsätzlich bin ans Ende mitgehen». Aber auch Mösli warnt vor dieser «sehr anspruchsvollen Situation» und den zu wenig bedachten möglichen Auswirkungen einer solchen Entscheidung auf Augenzeugen und Angehörige.

Eine spezifische Befürchtung der waadtländischen Heimseelsorgenden ist es, dass ihre Anwesenheit als Zustimmung zum Suizid gewertet wird und damit andere Bewohner zur Selbsttötung ermutigt. «Wenn Exit mit dem Gifttrank ins Altersheim kommt, erfährt es das ganze Haus», sagt Troilo. «Und wenn die Bewohner dann sehen, dass sogar die Pfarrerin dabei ist, denken sie, dass es nicht so tragisch ist und sie das vielleicht auch machen könnten.»

Rasante Entwicklung
Im Altersheim sei organisierter Suizid noch extrem selten, sagen übereinstimmend Troilo und Jaun. Aber das könnte sich ändern. «In der nächsten Generation wird es üblicher werden», vermutet Jaun.

Auch die rechtliche Lage entwickelt sich rasant: Am 5. Oktober 2016 hat das Bundesgericht entschieden, dass öffentliche Heime im Kanton Neuenburg ihren Bewohnerinnen und Bewohnern erlauben müssen, sich in den Heimräumen das Leben zu nehmen. In den Kantonen Waadt und Basel-Stadt sowie der Stadt Luzern wurden schon in den Jahren davor Richtlinien für diesen Fall erlassen. Eine Begleitung durch die Seelsorge für eine wohlüberlegte Entscheidung gehört fast immer dazu. Wie weit sie gehen muss, ist offen.

Marianne Weymann / ref.ch / 2. Februar 2017

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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