News aus dem Thurgau

Biodiversität: Ja, aber wie am besten?

von Ernst Ritzi
min
19.08.2024
Der Bauernverband fürchtet, dass der Nahrungsmittelproduktion wertvolle Fruchtfolgeflächen entzogen werden. Die Umweltverbände wollen der Biodiversität auf wirksam geschützten Flächen mehr sicheren Raum geben.

Am 22. September entscheidet das Schweizer Stimmvolk über die eidgenössische Volksinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft» (Biodiversitätsinitiative). Sie hat zum Ziel, die Biodiversität in der Schweiz besser zu sichern. Konkret sollen der Bund und die Kantone Schutzobjekte bezeichnen und bewahren, die für die Biodiversität erforderlichen Flächen sichern – und dafür die nötigen finanziellen und personellen Mittel zur Verfügung zu stellen.

Bafu: «Ein Drittel der Arten sind bedroht»
Dass die Biodiversität in den letzten Jahren drastisch zurückgegangen ist, bestätigt auch das Bundesamt für Umwelt (Bafu): «Der Zustand der Biodiversität in der Schweiz ist unbefriedigend. Die Hälfte der Lebensräume und ein Drittel der Arten sind bedroht. Mit dem Rückgang der Artenvielfalt geht auch die genetische Vielfalt verloren.»

Gemäss dem Schweizer Bauernverband (SBV) stellen die Bauernbetriebe im Schnitt 19.3 Prozent des Kulturlandes als Biodiversitätsförderflächen zur Verfügung. Die Biodiversitätsinitiative sei aber der falsche Weg, betont der Bauernverband. Statt die Fläche weiter auszudehnen, sollte zuerst das ökologische Potenzial der bestehenden Flächen optimal genutzt werden. Denn die Hauptfunktion des landwirtschaftlichen Kulturlandes und insbesondere der Fruchtfolgeflächen sei nach wie vor die nachhaltige Produktion von Lebensmitteln.

Einschränkung für Energie- und Lebensmittelproduktion?
Bundesrat und Parlament haben sich klar gegen die Biodiversitätsinitiative ausgesprochen, weil sie ihnen zu weit geht. Sie warnen davor, dass die Initiative die nachhaltige Energie- und Lebensmittelproduktion aber auch die Nutzung des Waldes und des ländlichen Raums für den Tourismus stark einschränken würde.

Die Redaktion des Kirchenboten hat eine Frau und einen Mann, die aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung und ihres Engagements von der Biodiversitätsinitiative betroffen sind, um eine Stellungnahme zur Abstimmungsvorlage vom 22. September 2024 gebeten.

 

Das meinen Gaby Zimmermann und Andreas Guhl:

 

Chance fĂĽr Natur und Gesundheit

Gaby Zimmermann, Theologin und Umweltberaterin, Kesswil

«Es geht nicht um ein paar Blüemli oder idyllische Orte mehr oder weniger. Es geht um nichts weniger als die Regenerationsfähigkeit der Natur, Grundlage von allem, wovon wir leben, unserer Ernährung, Gesundheit, Wohlstand. Das steht auf dem Spiel.

Für dramatisch viele Arten sind bereits die 'points of no return' überschritten. Wir haben kein Recht zu solcher Zerstörung, und müssen uns vor Gott, den Nachkommen und der Geschichte verantworten, wenn wir zu wenig tun. Abgesehen davon, sägen wir den Ast ab, auf dem wir sitzen.

Die Lage ist ernst, auch wenn der Naturverlust meist still verläuft und die Förderung von Biodiversität als Einschränkung von Landwirtschaft, Tourismus, Bau, Energie, Verkehr erscheint. Aber Biodiversität schützt Ökosysteme, die nie technisch ersetzt werden können – nur schon wegen der dafür nötigen Mengen an Geld und Energie. Biodiversität sorgt für fruchtbare Böden, sauberes Wasser, Gedeihen, Gesundheit, Sauerstoff und hilft gegen Klimawandel und Katastrophen. Das erst ermöglicht alles andere. Bereits ergriffene Massnahmen wirken, aber reichen nicht.

Die Schweiz steht punkto Schutzgebiete und Rote Listen schlecht da. Die Initiative ist eine Chance, die Lebensgrundlagen besser zu schützen. Was nach einem Ja geschieht, wird gesetzlich geregelt. Es ist nicht zu befürchten, andere Interessen kämen dabei zu kurz. Wir können es schaffen, die Lebensvielfalt der Schöpfung zu erhalten. Aber wir müssen es auch wollen.»

Flächenschutz geht zu weit

Andreas Guhl, Kantonsrat Die Mitte, Oppikon

«Biodiversität ist wichtig, wir alle leben von der Natur und diese benötigt ein Gleichgewicht von Geben und Nehmen, von Regen und Sonne… Als Landwirt arbeite ich mit der Natur. Das Klima ändert sich und mit ihm die Pflanzen und Tiere.

Der Wald wird in Zukunft nicht mehr derselbe sein. Wir brauchen Bäume und Pflanzen, die Hitze und Trockenheit besser ertragen. Feldversuche mit geeigneten Bäumen laufen seit Jahren. Vieles ist heute in der Planung oder in der Umsetzung. Moore und Gewässer und der Wald sind bereits heute per Verfassung und Gesetz geschützt.

Die Biodiversitätsstrategie Thurgau 2023 bis 2028 ist mit fast 30 geplanten Massnahmen am Start und garantiert echte Verbesserungen im Bereich der Biodiversität. Kanton und Gemeinden gehen mit gutem Beispiel voran. Privatpersonen werden mit Beratungsangeboten unterstützt. Wir alle können etwas zum Klimaschutz und zur Förderung der Artenvielfalt beitragen. Jeder Beitrag zählt.

Doch die vorliegende Biodiversitätsinitiative fordert vor allem eines: 'Schutz'. Geschützt werden sollen 30 Prozent der Fläche. Die Konsequenzen daraus sind: eine Verlagerung der Produktion ins Ausland, hohe Verwaltungskosten… Weiter müsste die Nutzung aller Flächen 'geschont' erfolgen. Was mit dem Wort 'geschont' konkret gemeint ist, werden wir wohl erst nach der Abstimmung erfahren.

Hüten wir uns vor dieser extremen Initiative mit einem unverhältnismässigen Flächenschutz ohne Qualitätsgewinn für die Biodiversität.»

 

 

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