News aus dem Thurgau

Befreiung aus dem Hamsterrad

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11.09.2019
Der Benediktinerpater Anselm Grün sprach in Basel über Mystik. Sie erweitere das Leben um eine spirituelle Dimension, dürfe aber nicht zur Flucht aus der Wirklichkeit führen.

Weisser Rauschebart und brauner Habit, so steht der Benediktinerpater Anselm Grün vor den vollbesetzten Reihen in der Predigerkirche in Basel, um über mystische Spiritualität zu sprechen. Der bescheidene Auftritt täuscht. Die Auflagen von Grüns Büchern erreichen Millionenhöhe. Die Boulevardpresse nennt ihn «Glückspater» und «Seelenflüsterer». Doch der Klosterbruder, der über ein Wirtschaftsstudium verfügt, ist alles andere als ein Wohlfühlprediger oder esoterischer Gesundheitsapostel. Grüns Botschaft ist geerdet, im Leben und im Evangelium. Auch bei seinem Auftritt in der Predigerkirche.

Keine Kirche ohne Mystik?
Anselm Grün, der zweieinhalb Stunden ohne Manuskript spricht, beginnt mit einem Zitat des katholischen Theologen Karl Rahner, nach dem die Kirche entweder spirituell sei oder keine Zukunft habe. Sein Zeitgenosse Karl Barth hingegen habe nichts von Mystik gehalten, sagt Grün. «Mystik war von den Dreissigern bis in die Fünfzigerjahre für die Reformierten ein Schimpfwort.» Heute halte die mystische Theologie auch Einzug in die reformierte Kirche.

Christliche Mystik definiert Anselm Grün als erfahrungsgemässe Erkenntnis von Gott. «Es braucht diese Mystik, denn über Gott nachzudenken, genügt nicht. Die Mystik geht davon aus, dass wir Gott nicht besitzen können, es ist ein lebenslanges Suchen nach Gott.» Für die Mönche des Mittelalters bedeutete die Mystik den persönlichen Erfahrungsweg zu Gott hin, den Weg aus dem Alltäglichen ins Erhabene. Wer beide Welten verbinden könne, werde heil. Grün bezeichnet die Mystik als «Geschenk und Hilfe», sie sei aber nichts Aussergewöhnliches. Wenn ihm Leute erzählen, dass sie Gott nicht spüren, antwortet ihnen der Pater, ihre Sehnsucht nach Gott sei schon Gott.

Mit Mystik ins Leben hinein
Viele schildern dem Benediktinerpater ihre mystischen Erfahrungen. Oft würden sie sich damit interessant machen, berichtet der Seelsorger. Eine Frau zum Beispiel habe ihm erzählt, wie sie mit Engeln spreche statt mit ihrem Arzt. Es gehe nicht darum, dem Leben aus dem Weg zu gehen und um sich selber zu kreisen, betont Grün. Im Gegenteil: «Mystik führt ins Leben hinein.» Das musste Grün auch einem jungen Mann erklären, der meinte, nur zwei Stunden pro Tag arbeiten zu können und hinter den Klostermauern nach Spiritualität suchte. Er sei vor der Arbeit und der Welt geflüchtet, sagt der Pater. Ebenso wie die Frau, die ihr Leben nicht leben konnte, weil ihr alles zu laut und zu viel erschien.

Tun, was der Augenblick gebietet
«Wer seinen Schmerz und die Einsamkeit nicht wahrnimmt und sich einredet, keine Beziehungen zu brauchen, weil er schon bei Gott ist, der irrt», sagt Anselm Grün. «Mystik heisst nicht, den Auseinandersetzungen auszuweichen, sondern tun, was ich dem Augenblick und dem Leben schuldig bin und was ansteht.» Ob dies nun «leben und arbeiten» bedeutet wie bei den Benediktinern oder «Kampf und Kontemplation» wie bei den Brüdern von Taizé.

Auf dem Weg der Mystik gehe es darum, Gefühle wie Ärger, Wut oder Angst anzunehmen, sich aber nicht von ihnen beherrschen zu lassen, erklärt Grün. «Annehmen – loslassen – eins werden»: Das Ziel sei es, sich selber zu werden, indem man sein Ego loslasse. Denn das Selbst sei die Mitte, nicht das Ego. Wenn Jesus predigt «Das Reich Gottes ist in euch», beschreibe er diesen Raum, der jenseits der Emotionen und Gedanken liegt und in dem wir ganz uns selbst seien, so Grün. «Von diesem Ort Gottes in uns kann man nur in Bildern sprechen. Die Mystiker des Mittelalters nannten ihn Seelenfünklein.»

Den inneren Raum öffnen
Gemäss Anselm Grün leiden manche depressiven Menschen an ihren übertriebenen Selbstbildern und an den hohen Ansprüchen. Viele spielten in ihrem Leben immer wieder die gleichen Dramen durch. Die Mystik könne helfen, aus diesem Hamsterrad auszubrechen und den inneren Raum zu öffnen. Dort sei man frei von den Erwartungen der anderen, heil, geschützt vor verletzenden Worten, ursprünglich und authentisch, weil man sich hier selber nichts beweisen müsse. Hier könne man auftanken und mit dem Leben eins werden.

Für den Benediktinerpater ist Mystik nichts Abstraktes und keine heile Welt, sondern Teil der Realität. Sie verhelfe dazu, dass man trotz der Differenzen zu einer gemeinsamen tieferen Einheit gelangen könne, auch gesellschaftlich und politisch. Als Beispiel führt er die Klimadebatte an. Anderen moralische Vorhaltungen zu machen, führe nicht zum Umdenken beim Schutz der Umwelt. «Für eine Veränderung braucht es eine mystische Erfahrung, das heisst, in einer Beziehung zur Natur und den Tieren zu stehen.»

Die Kraft der Liebe
Am Schluss appelliert Anselm Grün an die Kraft der Liebe, die auch zur Mystik gehöre. Insbesondere Frauen entwarfen im Mittelalter eine Liebesmystik. Sie verbanden die Sexualität mit Transzendenz. Die Liebesmystik gehe davon aus, dass sich alle danach sehnen, geliebt zu werden und zu lieben, so Grün. Doch die Liebe sei mehr als eine Emotion. «Sie ist eine Kraft, die Getrenntes zusammenführt. In der Liebe geschieht Gotteserfahrung.» Nicht die Stärksten würden überleben, sondern diejenigen, die Beziehungen leben und lieben. «Die Liebe verbindet uns in der tiefsten Dimension miteinander.»

Karin Müller, kirchenbote-online.ch, 11. September 2019

 

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