Als die grossen Glocken Einzug hielten
«Meine liebe Gemeinde! Am 12. Juli haben wir unsere neuen Glocken in feierlichem Zuge, begrüsst von den Klängen ihrer Schwestern im alten Kirchturm, ins Bergli hinausgeführt, und am 14. Juli wurden sie von unserer Jugend, ohne Unterschied der Konfession, vom Erstklässler bis zum Konfirmanden, zu ihrer luftigen Höhe hinaufgezogen. Die beiden Tage werden uns allen unvergesslich bleiben.» Mit diesen Worten beginnt die erste der sechs «Glockenpredigten», die der Arboner Pfarrer Willy Wuhrmann zu den Inschriften auf den Glocken gehalten hat. Die erste von ihnen am 3. August 1924, nachdem das Geläut erst zweimal – anlässlich des Nationalfeiertags und zum Einläuten des Sonntags – zu hören war.
Über zehn Tonnen schwer
Die Installation der Glocken ging einher mit dem Neubau der evangelischen Kirche auf dem Kirchplatz «im Bergli», der durch einen Abtretungsvertrag des Unternehmers Adolph Saurer der evangelischen Gemeinde zugesichert wurde. Fast 400 Jahre feierten nach der Reformation beide Konfessionen in der alten Kirche St. Martin. Der Bau einer eigenen Kirche wurde nötig, weil die Stadt Arbon bis zur Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert einen enormen Bevölkerungszuwachs erfahren hatte. Die gemeinsam genutzte Kirche wurde zu klein. Ursprünglich sahen die Planungen fünf Glocken mit einem Gesamtgewicht von 10’000 Kilogramm vor; man entschied sich dann jedoch für sechs Glocken der Giesserei Rüetschi in Aarau mit den Tonklängen As, B, Des, F, as und b. Die schwerste Glocke «As», die den tiefsten gängigen Ton bei Kirchenglocken darstellt, wiegt 5050 Kilogramm. Zusammen mit der kleinsten Glocke mit dem Ton c'', die als siebte im Jahr 1953 hinzukam, wiegt das grösste Geläut einer evangelischen Kirche im Kanton Thurgau sogar über 13 Tonnen. Keine andere Kirche unserer evangelischen Landeskirche besitzt zudem die stolze Zahl von sieben Glocken. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zogen verstärkt grosse Glocken in die Kirchtürme ein. Es ist beachtenswert, dass das zweitgrösste evangelische Geläut gleich in der Nachbarschaft zu Arbon liegt: in der Kirche Neukirch (11’590 Kilogramm), die, genau wie Arbon einen offenen Glockenstuhl besitzt, also ohne die Schallläden, die sonst üblicherweise den direkten Blick auf die Glocken verwehren.
Imposant und doch zurückhaltend
Das hohe Gesamtgewicht der Glocken erfordert grosse Stabilität. Der Mesmer der Arboner Kirche Marc Moser zeigt beim Betreten der Glockenstube auf den mächtigen Glockenstuhl aus Stahl. Die Glocken selbst sind an grossen Trägern aus Gusseisen befestigt, wobei das Joch markant geschwungen ist. Nur die jüngste und kleinste Glocke hat ein gerades Joch. Während die grossen Glocken imposant wirken, ist an anderer Stelle Zurückhaltung angesagt: Etwa ab den 1920er-Jahren tritt die auf älteren Glocken zu findende oft reiche Verzierung zurück. Einzig die Giessereikartusche mit dem Namen der Giesserei ist als Schmuck auf den Glocken zu finden. Die Bibelverse dominieren in ihrer zeitlosen Schlichtheit die Aussenseite der Glocken. Besonders ist ausserdem, dass die Viertelstundenschläge in Arbon als Dreiklang ertönen. Laut dem Glockenexperten Hans Jürg Gnehm ist dies selten und zudem schön, wenn die Glocken 5, 4, 3 ihren Des-Dur-Dreiklang bilden.
«Allerlei Albernes»
Die damaligen Pfarrer von Arbon wurden damit beauftragt, passende Inschriften für die Glocken auszuwählen. Pfarrer Wuhrmann schreibt in einer seiner Glockenpredigten, dass er über längere Zeit teils dicke Bücher mit Glockeninschriften «aus ältester Zeit bis in die Gegenwart» auf seinem Schreibtisch liegen hatte. «Allerlei Originelles, Gespreiztes und Albernes war da zu lesen», steht in seiner Predigt. «Manche zeugten auch von menschlicher Eitelkeit, wenn etwa ein Pfarrer oder ein Kirchenpfleger seinen Namen auf einer Glocke 'verewigt' haben wollte.» Teilweise findet man auf Glocken wichtige Zeitereignisse, oder Preise, etwa von Korn oder Wein, wurden notiert. Einige Glocken enthalten Namen von Heiligen, die dadurch um Hilfe gebeten werden sollten. Die häufigste Bitte, die man in unterschiedlicher Weise auf Glocken findet, ist jedoch die Bitte um Frieden. In Arbon ist auf der grossen As-Glocke die weihnachtliche Friedensbotschaft zu lesen: «Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen.»
Zeitlose Worte gewählt
Die Arboner Pfarrer entschieden sich, Bibelverse als Inschrift zu wählen. Pfarrer Wuhrmann erkannte sie als zeitlose Worte, während andere Sprüche veralten. «Manchmal stiess ich auf ein Bibelwort, und es schien mir dann, als leuchte unter allerlei Schutt ein Goldkorn oder ein Edelstein auf», liess er seine Gemeinde wissen. So fanden Bibelverse den Weg als Inschrift auf alle Arboner Glocken: «Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken», heisst es auf der zweitgrössten Glocke, dann in der Reihenfolge absteigend: «Selig sind die Toten, die im Herrn sterben.», «Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit.», «Du schaffst Jubel, wo der Morgen aufgeht und der Abend anbricht.», «Lasst die Kinder zu mir kommen!» und «Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.»
Klänge unterscheiden sich
Je nach Anlass läuten unterschiedliche Glocken. Das volle Geläut ertönt für den Gottesdienst, bestimmte Glocken werden bei Trauungen oder Trauerfeiern geläutet. Die Glocke 5 in Arbon ist die Betglocke. Glocken rufen die Gemeinde in die Kirche, aber sie rufen ebenso zum Gebet, denn «auch wir haben es nötig, dass wir immer wieder zur Arbeit und zum Gebet gemahnt werden», erinnert Pfarrer Wuhrmann in seiner Predigt zur Betglocke. Wann immer die Glocke einer Kirche zur Betzeit läutet, erinnert sie auch heutige Menschen daran, dass das Leben beides braucht: Anspannung und Entspannung, Arbeit und Gebet.
Als die grossen Glocken Einzug hielten