News aus dem Thurgau

Worte allein genügen nicht

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04.01.2016
Bei jungen Männern in der Schweiz ist Suizid die häufigste Todesursache. Angesichts des wirtschaftlichen Wohlstands überrascht die Tatsache und wird nun vermehrt auch von der Kirche wahrgenommen. Ihre Verantwortung geht weiter, als betroffenen Familienangehörigen und potenziell gefährdeten Menschen mit Bibelversen Trost zu spenden.

Von Cyrill Rüegger

«Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.» So steht es in Jesaja 66,13. Die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen hat den Zuspruch von Gott als Jahreslosung für 2016 herausgegeben. Sie will damit aufzeigen, dass Gott für die Menschen immer da ist − insbesondere in schwierigen Zeiten. 

Über dem weltweiten Schnitt

Die Schweiz hat seit Jahrzehnten einen der höchsten Lebensstandards der Welt. Ernsthafte Sorgen kennt hier fast niemand, sollte man meinen. Ein Blick auf die aktuelle Suizid-Statistik der Weltgesundheitsorganisation WHO gibt jedoch zu denken: Die Schweiz befindet sich mit 13 Selbstmorden pro 100‘000 Einwohner über dem internationalen Durchschnitt von 11.5. Im europäischen Vergleich steht sie deutlich vor Ländern wie Spanien und Griechenland, wo die Menschen seit Jahren von schweren finanziellen Krisen geplagt sind. Ein Umstand, der auch Hans-Henning Quast verwundert hat, als er vor zwei Jahren von Spanien nach Hugelshofen gezogen ist.

Zahlen sind erschreckend

Quast, der sich kurz nach seiner Niederlassung in die Kirchenvorsteherschaft wählen liess, verweist auf einen Bericht des Bundesamts für Gesundheit vom April 2015. Dieser kommt zum Ergebnis, «dass die suizid-bedingten Todesfälle häufiger sind als alle durch Verkehrsunfälle und Drogen bedingten Todesfälle zusammen.» Bei den 15- bis 44 jährigen Männern ist Suizid heutzutage sogar die häufigste Todesursache. «Erschreckend», stellt Hans-Henning Quast fest und ergänzt: «Die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien liegt bei 53 Prozent und ist damit fast zehnmal so hoch wie in der Schweiz. Trotzdem liegt die Suizidrate deutlich unter jener bei uns.»

Internet spielt eine Rolle

Schlüssige Antworten auf die Frage nach den Ursachen habe er erst ansatzweise gefunden, erklärt Quast. Der promovierte Psychologe, der nach seinem Hochschulabschluss in Führungspositionen im Bereich Personalwesen in der Wirtschaft gearbeitet hat und heute als selbständiger Unternehmer tätig ist, befasst sich aus reinem Interesse mit dem Thema Suizid. «Eine wichtige Rolle spielt sicherlich der soziale Druck, der durch Netzwerke wie Facebook verstärkt wird», sagt er. Aus einem blöden Spruch könne leicht eine grosse Kränkung und soziale Demütigung werden, die sich im virtuellen Netz lawinenartig verbreite − mit schlimmen psychischen Folgen für die betroffene Person.

Christliche Verantwortung wahrnehmen

Gerade bei jungen Erwachsenen sei dies problematisch, weil die sozialen Netzwerke häufig ausserhalb der Erreichbarkeit der Eltern liegen würden. An diesem Punkt sieht Hans-Henning Quast für die Kirchgemeinden eine Herausforderung, ihre christliche Verantwortung wahrzunehmen: «Sie sollten eine erste persönliche Anlaufstelle bieten. Und zwar für alle Menschen, die jemanden zum Zuhören brauchen.» Natürlich müssten die entsprechenden Personen gut geschult werden, damit sie erkennen, in welchen Situationen professionelle Hilfe eingeschaltet werden muss. Zwar gebe es bereits eine ganze Reihe von Beratungsstellen, doch seien diese eher anonymer Art. 

Taten sollen Worte ergänzen

Quast ist sich bewusst, dass die Idee noch weiterentwickelt und konkret ausgestaltet werden müsste. Nachdem sich nun auch der Bund der Suizid-Problematik angenommen habe, sei es aber umso wichtiger, dass auch die Kirche das Thema Suizid aktiver angehe. Ausgewählte Verse wie die Jahreslosung könnten zwar vielen Menschen Trost und Rückhalt spenden. Gerade im Fall von suizidgefährdeten Personen sei dies aber trügerisch: «Wenn wir die christliche Botschaft ernst nehmen, dann ist hier das konkrete Tun und Handeln das Entscheidende und nicht allein die guten und frommen Worte.»

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