News aus dem Thurgau

Milch

min
24.07.2020

Von Alfred Bodenheimer

Ich darf wohl sagen, es ist eines der bestgehüteten Geheimnisse, die je von einer Generation zur anderen weitergegeben wurden. Von Mutter zu Tochter, die weibliche, weitverzweigte Linie unserer Familie kennt es ausnahmslos. Hunderte dürften wir inzwischen sein, und jede von ihnen hat es geschafft, ein kleines Gewürzgärtchen anzulegen, wo sie gerade wohnt – im Nebenbeet eines Bauernhofs, neben dem dauergemähten Rasen einer Villa, oder auch wie ich in einem Töpfchen auf den zwei Quadratmetern Nutzbalkon in einer Mietruine. Am Tag meiner Hochzeit mit C. wurde ich von meiner Mutter eingeweiht, wie wir alle. Sie gab mir ein Säckchen mit dem schon zubereiteten Pulver und das Zettelchen mit der Rezeptur.

«Es ist ja schön zu zweit, aber manchmal will man seine Ruhe», erklärte sie mir. Und dann helfe dieses Pulver. Eine Prise in ein Getränk gerührt eine halbe Stunde vor dem Zubettgehen, und er schläft wie ein Klotz. Am besten, man macht aus dem Getränk ein Ritual für jeden Abend, dann kann man mal ja, mal nicht, nach Belieben.

«Und welches Getränk?», fragte ich sie. «Nichts Klares. Nicht Wasser oder Limonade, darin sieht man’s. Kein Alkohol, da wird er schon genug bechern, das unterstützen wir nicht.»
«Saft?», fragte ich.
«Naja, aber wer trinkt jeden Abend Saft? Ich schwöre auf Milch. Hat mir gute Dienste geleistet. Hast du nicht gemerkt, dass dein Vater früher immer noch sein warmes Milchlein hatte vor dem Schlafengehen? Heute braucht’s das nicht mehr. Aber das tut jetzt nichts zur Sache.»

Ja, Milch tut den Job. Ich kann es bestätigen. Ich brauche es gar nicht so oft, aber wenn, dann merkt er nichts, und das Pulver – ich darf sagen, meine Experimente zur Verstärkung der Wirkung haben Früchte getragen. Ein, zwei Minuten, und C. ist weggetreten, woanders als im Bett darf man ihm das Zeug gar nicht mehr reichen, so schnell wirkt das.

Aber seit einiger Zeit krieg ich ihn abends eh kaum mehr zu sehen. Er kommt nicht vom Spielen los, verzockt das Geld, das wir nicht haben, und nimmt Schulden auf bei Schulze. Bei Schulze! Und dann kommt es, wie es kommen muss. Beim ersten Mal zertrümmern drei von Schulzes Leuten unser Mobiliar. Das wenige, was wir haben. Beziehungsweise hatten. Beim zweiten Mal treten sie ihn halbtot. Ich zittere nur noch, will ausziehen, aber wohin? Ich schäme mich zu sehr, um irgendjemandem zu erzählen, in welche Scheisse ich mich geritten habe mit diesem Mann.

Wie man diese Schläger loswerden könnte, sinniert C. dann abends zwischen seinen Zahnlücken herum.
«Du bist echt so blöd», sage ich. «Wenn du jemanden loswerden musst, dann Schulze, nicht diese Dumpfbacken von Schlägern. Ohne den sind die nichts. Aber an ihn kommst du nicht ran.»

Und dann, eines Tages, steht der selber in der Tür. Schulze. Allein. Unscheinbarer Typ, aber brutaler Zug um den Mund. Ich kenne diese Sorte.
«Er ist nicht da», sage ich.
«Ich warte. Gibt ja hübsche Gesellschaft hier», und setzt sich rotzfrech auf den letzten noch verbliebenen Küchenstuhl, blickt mich anzüglich an. «Kannst mir inzwischen was zu Trinken geben, Süsse», meint er.


Ok, die Tour kann ich auch. Setze Milch auf.
«Sag mal, wofür hältst du mich?», blafft er, als die dampfende Tasse vor seiner Fresse steht. «Für ein Baby?»
«Milch macht müde Männer munter», sage ich – Achtung, Augenaufschlag. «Und starke Stricke stramm. Wenn schon mal ein echter Kerl hier über die Schwelle tritt.» So, jetzt wird noch ein Blusenknöpfchen geöffnet.
«Soso», sagt er, schon ist seine Hand an meinem Po, und er trinkt tatsächlich, ja trink, trink, er setzt ab, ein widerlicher Milchschnauz auf der Oberlippe, ich gehe aufs Ganze, entwinde mich ihm katzenhaft, aber ganz den Blick auf ihn geheftet, halboffener Mund. Noch einen Schluck, das sollte reichen, ich habe noch etwas mehr Pulver reingetan als sonst.
Und dann sieht er plötzlich ganz friedlich aus, wirklich fast wie ein Baby. Leicht seitlich gekippt, ruhig und behaglich atmend.

Was genau ich machen soll, wenn er mal pennt, habe ich mir vorher gar nicht so genau überlegt. Aber machen muss ich was. Und plötzlich wird mir siedend heiss klar, dass ich nur eines machen kann. Was wirklich wirkt. Wie ich es meinem Mann gesagt habe. Die Kehle aufschneiden? Riskant, wenn ich ansetze und er wacht auf. Mein Blick fällt auf den Werkzeugkasten. Das ist die Lösung. Die Ahle mit der Linken auf die Schläfe gesetzt, in der Rechten der Hammer …

Blut, Blut, Blut überall, das ekelt mich, ich renne weg, rufe C. an. «Wo bist du denn, Schulze liegt tot in unserer Küche, entsorgen musst du ihn und aufputzen sowieso, mich siehst du nicht wieder, ich hätte schon längst abhauen müssen.»
«Wir stehen das zusammen durch», sagt er bittend.
«Nein», sage ich und denke, so viel Pulver gibt’s gar nicht, wie ich dir in die Milch hätte schütten sollen.

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Alfred Bodenheimer, geboren in Basel, erhielt eine traditionelle jüdische Ausbildung und besuchte Talmudhochschulen in Israel und den USA. In Basel studierte er Germanistik und Geschichte. Seit 2003 ist er Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel. Inzwischen ist sein fünfter Krimi erschienen, in denen Rabbi Klein in den Niederungen der Jüdischen Gemeinden recherchiert. «Im Tal der Gebeine», Nagel & Kimche, München 2018

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