News aus dem Thurgau

Wenn plötzlich alles auf dem Spiel steht

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23.08.2019
«Den Weg zu Ende gehen»: In einem neuen Buch bezieht die Evangelische Landeskirche Thurgau Stellung zum brisanten Thema Lebensende. Schriftleiterin Christine Luginbühl und Mitautorin Karin Kaspers Elekes geben einen Einblick.

Sie haben ein Buch zur Selbstbestimmung am Lebensende realisiert. Was war Ihre Motivation?
Karin Kaspers Elekes (KKE): Der Publikation ging eine Tagung aller Pfarrkapitel der Evangelischen Kirche des Kantons Thurgau zum Thema «Selbstbestimmung am Lebensende» voraus. Dekan Tibor Elekes gab die Anregung zu einer Handreichung. Es brauche für Interessierte etwas zum «in die Hand nehmen» von Seiten der Kirche für die Auseinandersetzung mit dem sogenannten selbstbestimmten Sterben. Es löse Fragen und Ängste aus, darum brauche es die Möglichkeit, verschiedene Erfahrungen kennenlernen zu können. Der Kirchenrat nahm diese Idee auf und richtete eine interprofessionell besetzte Projektgruppe ein. So fing alles an.

An wen richtet sich das Buch?
KKE: Die Publikation bietet unterschiedliche literarische Zugänge zum Thema, so dass der Einstieg eigentlich für jeden Interessierten möglich ist, unabhängig von seiner beruflichen Herkunft und seinem Alter. Wann Fragen nach dem Lebensende aufkommen, das hängt ja nicht selten vom Lebensverlauf ab. Wenn Ohnmacht schmerzlich erfahren wird durch das persönliche direkte oder indirekte Betroffensein von einer zum Tode führenden Erkrankung, dann kann eine solche «Hand-Reichung» sinnvoll werden.

Wie haben Sie die Autorinnen und Autoren ausgewählt?
Christine Luginbühl (CL): Die Absicht der Arbeitsgruppe war, Fachleute aus unterschiedlichen Disziplinen zum Thema zu Wort kommen zu lassen. Was unterstützt in der letzten Lebensphase? Was verstehen wir unter «selbstbestimmtem Sterben»? Welchen Wert könnte es haben, dem Leben nicht selber vorzeitig ein Ende zu setzen? Im Dialog mit den Angefragten entwickelten sich dann zusätzliche Themenschwerpunkte: Würde, Sterbewunsch, Sterbehilfe. Und natürlich war es auch nötig, aus Sicht der Kirchenleitung eine Positionierung vorzunehmen. Menschen möchten wissen, was in der Kirche verantwortlich Tätige zu diesem Thema denken.

Wo liegt der Unterschied zwischen einem Verzicht auf lebenserhaltende oder lebensverlängernde Massnahmen und assistiertem Suizid?
CL: Man könnte ja auf Anhieb denken, es käme auf das Gleiche heraus, nämlich ein gesteuerter vorzeitiger Tod. Der Unterschied liegt in der Absicht: Lebens- und Leidensverkürzung durch «Geschehen lassen» oder durch Selbsttötung. Der Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen, wenn sie eine Leidensverlängerung darstellen würden, steht unter dem Begriff der passiven Sterbehilfe. Einmal darf es auch genug sein. Aber Entscheidungen am Lebensende gestalten sich mit den heutigen Möglichkeiten komplexer als früher. Lebensverlängerung um jeden Preis will kaum mehr jemand – aber wann ist genug? Hier geht es um gemeinsame Entscheidungen von Patient, Angehörigen und Behandlungsteam. In der Nationalfondsstudie «Lebensende» zeigte sich, dass etwa bei 70 Prozent der erwarteten Sterbesituationen ein solch bewusster Entscheid vorausging. Beim assistierten Suizid, der in Einzelfällen vielleicht als Weg gewählt wird, geht es hingegen um einen aussergewöhnlichen Todesfall.

In der Publikation (S. 66) steht, dass das Aussprechen des Sterbewunsches durchaus sinnvoll sein kann auf dem Weg, sein Leben bewusst zu Ende zu leben. Was heisst das?
KKE: Es gehört, so meine Erfahrung, viel dazu, diesen Wunsch auszusprechen. Zeit. Nähe. Und vor allem Vertrauen. Vielleicht ist es auch eine Art Prüfung: Wie reagiert mein Gegenüber? Es steht, wenn jemand einen Sterbewunsch äussert, viel, ja das Ganze auf dem Spiel. Nicht selten ist es die Suche nach Verstehen, Resonanz, gemeinsamem Aushalten. Wenn ein Mensch so von Krankheit betroffen und in seinen Lebensmöglichkeiten reduziert ist, tritt oft die Frage nach dem Sinn seines Daseins auf die «Tagesordnung». Habe ich noch einen Platz im Leben der anderen? Bin ich so angenommen und geliebt? Es ist eine der sensibelsten Lebens- und Begleitsituationen, denke ich.

Wie reagieren Sie als Seelsorgerin in einer solchen Situation?
KKE: Es ist oft auch der Moment der Suche nach dem «Mehr des Lebens», das wir Menschen uns nicht selbst geben können. Dieser Aspekt tritt in den Vordergrund, wenn alles andere nicht mehr weit genug trägt. Seelsorgende können hier, wenn der Betroffene sie dazu «einlädt», Hand bieten auf der Suche nach dem, was dem Einzelnen letztlich tragfähig und sinngebend erscheinen kann. Dazu gehört auch der Versuch, wieder zu beten, auch wenn es ein Mensch vielleicht lange nicht getan hat. Die Unterstützung auf diesem Weg kann sehr wesentlich für das Erleben der letzten Lebensphase sein. Spiritual Care ist im Kanon der Disziplinen mit für die Verbesserung und Sicherstellung von individuell erfahrener Lebensqualität verantwortlich. Der Wunsch nach aktiver Verkürzung des Lebens durch einen assistierten Suizid beinhaltet meines Erachtens immer auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Daseins in der Krankheitssituation, die ein hörendes Gegenüber braucht, damit keine Entscheidungen aus reiner Verzweiflung getroffen werden.

Daran knüpft wohl auch die Frage an: Welche Bedeutung hat der «letzte Weg» für das Leben?
KKE: Die letzte Wegstrecke gehört zum Lebensweg dazu. Was wäre eine Tour de Suisse ohne Zieleinfahrt? Da stellt einer sein Rad in der Regel ja auch nicht vor der Ziellinie an den Strassenrand. Es sei denn, es fährt niemand mit, der ihm auf der letzten Etappe noch einmal das Wasser reicht, ihn ermutigt. Und die Gewissheit, erwartet zu werden hinter der Ziellinie. Zugegeben, das ist ein etwas gewagtes und legeres Bild. Und doch. Paulus nutzt ein ähnliches. Dabei geht es darum, dass diese letzte Wegstrecke in bestmöglicher Lebensqualität gelebt werden kann. Symptomkontrolle gehört unbedingt dazu für das, was körperliches, seelisches, soziales oder spirituelles Leiden verursachen kann. Auch die letzte Lebensstrecke soll noch möglichst selbstbestimmtes Leben sein dürfen, zu dem es aber unbedingt die Beziehung zu anderen braucht. Wie auch sonst im Leben. Nur wird es hier spür- und sichtbarer.

Was war Ihre persönliche Motivation, sich für die Entstehung des Buchs einzusetzen?
CL:Für mich ist es das Erleben von Krankheits- und Sterbesituationen über eine Zeitspanne von fast vierzig Jahren in der Medizin, aber auch in der eigenen Familie, wo man noch einmal ganz anders betroffen ist. Es ist mir ein tiefes Anliegen, dass der verletzliche Mensch in seinen Bedürfnissen und mit seiner Geschichte wahrgenommen und so achtsam wie möglich begleitet wird. Was das Kernthema des Buches betrifft: Es darf nicht sein, dass alte und kranke Menschen sich wertlos fühlen, und dass der assistierte Suizid gleichsam zu einer gesellschaftlichen Erwartung wird. Den Weg zu Ende zu gehen, ist sicher nicht einfach, ist für mich aber mit der Hoffnung verbunden, in Frieden mein Haus zu bestellen, Abschied zu nehmen, und den Kreis zu schliessen.

KKE: In meiner täglichen Arbeit begegne ich nicht selten Menschen, die sich genötigt sehen, sich mit der Möglichkeit eines assistierten Suizids auseinanderzusetzen. Unsere Gesellschaft ist sehr in Bewegung, was die Werte betrifft. Betroffene und ihre Angehörigen aber sind oft verletzlich und schwach. Ich hoffe, dass unsere Publikation deutlich zu machen hilft, dass selbstbestimmtes Sterben sich nicht in der Möglichkeit eines assistierten Suizids erschöpft, sondern eben auch bedeuten kann, den Weg zu Ende gehen zu können und auch darin Lebendigkeit zu erfahren!


(23. August 2019, Interview: Cyrill Rüegger)

→ Hier geht's zum Dossier «Lebensende»

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