News aus dem Thurgau

Raus aus dem Vorgespurten!

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16.04.2019
Wie bequem ist doch eine organisierte Carreise, wo alles vorgespurt ist. Spannend aber wird es abseits, wenn ich selbst entdecke und meinen Weg finde, den eigenen Lebensweg gar. Die Psychotherapeutinnen Kathrin Knüsel und Ursula Germann haben diesen Pfad früh eingeschlagen.

«Als ich damals die Berufsberatung besuchte, gab es vier Varianten: Krankenschwester, Kindergärtnerin, Lehrerin und kaufmännische Angestellte», erinnert sich Knüsel. Und es schwingt ein leises Schaudern mit. Nichts gegen diese vier Berufe, aber dass die Freiheit der Arbeit allein wegen des Geschlechts derart eingeschränkt war, sei schon unerträglich gewesen. «Bald merkte ich, dass das nicht mein privates Problem ist, sondern ein gesellschaftliches.» Sie zitiert Adorno «Das Private ist politisch». Das sei eine Initial-
zündung gewesen, 1968. 

«Vorher waren Frauen privat, jetzt, ab 1971 waren sie politisch.»

Ein zweiter Meilenstein war 1971, als das Frauenstimmrecht eingeführt wurde. «Vorher waren Frauen privat, jetzt waren sie politisch.» Und erst ab diesem Zeitpunkt gebe es eigentlich Demokratie. 1988 kam dann das neue Eherecht. Endlich waren Frauen in der Berufswahl frei und konnten ohne «Erlaubnis» Verträge abschliessen. 1996 folgte schliesslich die Gleichstellung per Gesetz, auch die Lohngleichheit. «Umgesetzt ist das noch lange nicht», sagt Knüsel, und bedauert, dass «Frauenberufe» oft dem Niedriglohnsektor zuzuordnen seien. «Und wenn da mal ein Mann auftaucht, steigt er meistens rasch auf.»

Zurücksetzungen sehen
Germann betont, dass Pionierinnen der Frauenbewegung sich für alle Benachteiligten eingesetzt haben. «In Amerika plädierten sie für die Freilassung der Sklaven und für die Freilassung der Frauen als ‹Haussklaven›.» Bei sozial Benachteiligten summierten sich oft Zurücksetzungen. Darum hätten mutige Frauen, die in neuen Berufsfeldern erfolgreich waren, auch nicht weggeschaut, wenn sie Ungerechtigkeiten sahen: wie die Archäologin und Burgenforscherin Franziska Knoll-Heitz, die durch einen Krankheitsfall in der eigenen Familie zu einer Mitbegründerin des heutigen Kinderspitals St. Gallen wurde. 

«Selber habe ich miterlebt, wie ihr Steine in den Weg gelegt wurden.» Geschah es aus Neid oder weil sie eine zielbewusst arbeitende Frau war? «Mir fällt oft der Unterschied auf zwischen Menschen, die von einer Idee erfüllt sind, ein Werk aufbauen und darum auch Durststrecken in Kauf nehmen und Leuten, die in einer vorgegebenen Hierarchie aufsteigen.» Für Frauen bedeute das oft, sich in Positionen des patriarchalen Systems beweisen zu müssen. Wichtig sei der Spielraum für die eigene Kreativität.

Ehrfurcht eine Chance geben
Junge Frauen sollten soviel verdienen, dass sie unabhängig seien, betont Knüsel. Sie sollten also nicht blindlings vertrauen, sondern sehen, dass der Ehevertrag ein Wirtschaftsvertrag sei, kein Liebesvertrag. Es gehe darum, die meist gratis geleistete «Care-Arbeit», Familie, Kinder und Pflege in ein Gesamtpaket des Geldverdienens zu packen und durch zwei zu teilen. Aber Ökonomie ist nicht alles. «Ob Menschen, denen Ehrfurcht vor dem Leben und Gemeinwohl wichtig sind, noch eine Chance haben in einer Welt, in der Wettbewerb und finanzielle Optimierung Priorität geniessen?», fragt Germann. «Ich wünsche mir, dass ihre Stimmen nicht leise im Hintergrund bleiben, sondern sich laut und deutlich einsetzen für das Wohl aller Menschen, auch der Zukurzgekommenen.»

 

Text | Foto: Reinhold Meier, Journalist, Wangs  – Kirchenbote SG, Mai 2019

 

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